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Klassenfahrt
Mit den Eisernen durch die Bundesliga: Ingo Petz fühlt sich vor dem Geisterspiel in der Alten Försterei gegen Bayern München hilflos
Wenn ich an das Wochenende denke, stellt sich ein seichtes Gefühl der Übelkeit ein. Es ist nicht die übliche Aufregung vor dem Spiel, die dieses Gefühl provoziert, sondern eine Art Hilflosigkeit. Ich bin Fan des 1. FC Union Berlin. Und nun steht der erste Spieltag im Geisterformat an. Wenn es Union nicht geben würde, hätte ich dem Profifußball wohl schon längst abgeschworen. Diesem Zirkus mit seinen aberwitzigen Gehältern, seinem autoritären Regulierungswahn, seinem Machtstreben, das selbstgefällig über alle möglichen Grenzen hinwegschreitet.
Gerade jetzt, wo es um das Wesentliche gehen sollte, entpuppt sich dieser Zirkus noch deutlicher als Geldverbrennungsmaschine, die Hunderte Millionen jedes Jahr umsetzt und bereits nach ein paar Wochen unter der Last der Krise zu ächzen beginnt. Der 1. FC Union ist zweifelsohne Teil dieses Zirkus. Der Kommerzialisierung kann niemand entfliehen, wenn er sich auf die Regeln des Spiels einlässt. Auch wenn man versucht, gewisse Dinge anders zu machen. Außenstehende mögen das als Romantik oder Folklore abtun. Aber tatsächlich ist diese andere Einstellung zu dem, was Fans sind, was die wiederum für den Verein und den Fußball bedeuten, das, was uns von den neoliberalen Fußballmaschinerien unterscheidet.
Das Zauberwort dabei heißt: Selbstbestimmung. Als Fan kann ich mich an der Alten Försterei entfalten, mein Verein nimmt meine Interessen ernst, auch meine Kritik. Ich kann mich einbringen, ich kann gestalten. Wir begegnen uns auf Augenhöhe. Wir gehören zusammen. Der Spieltag mit seinen Ritualen ist der Raum, ist der Feiertag, an dem diese Einheit und der Wert der Selbstbestimmung beschworen und gelebt werden.
Es wird auch gestritten, was wichtig ist, damit die eigene Fankultur nicht zum musealen Ausstellungsstück verkommt, sondern lebendig und wehrhaft bleibt. Dies ist auch der Grund, warum viele Unioner den Fußball als Fernsehspiel ablehnen und sogar verachten. Denn die Anwesenheit im Stadion, das körperliche und mentale Erleben, ist unabdingbarer Bestandteil dieser Beschwörung. Die Mattscheibe ist die Verflachung all dessen.
Nun stehen also die Geisterspiele an. Man kann sie für alles Mögliche kritisieren, was bereits in ausreichendem Maße geschehen ist. Man kann auch verstehen, dass der Wirtschaftsfaktor für das Überleben gerade der kleineren Vereine eine Bedeutung hat, zu denen Union weiterhin zählt. Als Fan aber kann ich ein Geisterspiel niemals begreifen, weil es die Kultur der Selbstbestimmung nicht nur ad absurdum führt, sondern regelrecht entleert - ja sogar zerstört.
Man kann nun einwerfen, dass es wichtig sei, die Mannschaft auch vor dem Fernseher zu unterstützen. Durch die Kraft der Telepathie. Auch wir brauchen schließlich noch Punkte, um nicht doch noch abzusteigen.
Manche Mannschaften sind es vielleicht gewohnt, ohne die eigenen Fans im Rücken ein gutes Spiel abzuliefern. Die von Union ist es nicht. Die Spieler sind Teil der eben beschriebenen Einheit, und jeder würde wohl bestätigen, dass die Fans einen erheblichen Anteil an einem für uns erfolgreichen Spiel haben. Ich möchte in dieser Situation nicht mit Christopher Trimmel oder Marius Bülter tauschen. Auch nicht mit Trainer Urs Fischer, der die Mannschaft auf dieses unwürdige Spektakel einstellen soll. Aber natürlich wünsche ich ihr alles Gute. In erster Linie, dass alle gesund bleiben.
Nein, im Fernsehen werde ich mir sicher nicht ansehen, wie mich die Tribünen unseres Stadions mit leeren, toten Augen anstarren. Was aber soll ich als Fan an so einem Tag tun? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt. Aber auch dieser Gedanke bringt keine Erleichterung. Ich bin mir in einem sicher: Es wird eine schmerzhafte Erfahrung, wie ein Riss, der durch mich hindurchgeht. Mein Verein spielt, ich kann nicht hin, an die Alte Försterei. Am liebsten würde ich mich einfach in Luft auflösen.
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