Eine (post-)koloniale Hoffnung

Der tunesisch-französische Soziologe und Schriftsteller Albert Memmi ist im Alter von 99 Jahren gestorben

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Jüdisch, arabisch, französisch. »Ich war eine Art ›Mischling‹ der Kolonisierung, ich verstand alle, weil ich zu niemandem gänzlich gehörte«, schrieb der Soziologe und Schriftsteller Albert Memmi 1965 im Vorwort der englischen Ausgabe seines bekanntesten Werks »Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts«, das 1980 auf Deutsch erschien.

Der Sohn einer jüdisch-arabischen Handwerksfamilie wurde am 15. Dezember 1920 am Rande des jüdischen Viertels La Hara in Tunis, in dem damaligen französischen Protektorat Französisch-Nordafrika, geboren. Er besuchte eine rabbinische Schule und konnte aufgrund eines Stipendiums die weiterführende Schule besuchen. Er schloss sich der sozialistisch-zionistischen Bewegung Hashomer Hatzair an und begann zu schreiben, zuerst für tunesische Zeitungen.

Später studierte er an der Universität Algier. Doch mit dem Einmarsch der Deutschen und Italiener 1942 musste er diese verlassen. Er wurde in ein Internierungs- und Arbeitslager im Osten Tunesiens gebracht, aus dem er letztlich fliehen konnte. Innerhalb von sechs Monaten wurden in Tunesien über 2500 Juden ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg verließ Memmi 1946 das Land der Kolonisierten für jenes der Kolonisatoren. Zu Beginn seines Philosophiestudiums an der Universität Sorbonne in Paris war nicht einmal klar, ob er die Prüfungen würde ablegen können. Danach gefragt, antwortete ihm der Präsident der Jury: »Es ist kein Recht. (…) Es ist eine Hoffnung. (…) Sagen wir, es ist eine koloniale Hoffnung.«

Diese Hoffnung kleidete Memmi in Worte. Zuerst in seinem Roman »Die Salzsäule«, den er selbst später als »Versuchsballon« bezeichnete, der ihm half, die Richtung seines Lebens zu finden. Und später in seinem berühmt gewordenen Essay, bei dem Memmi das Porträt des Kolonisierten als eine Art Selbstporträt verstand, das jedoch weit über seine eigenen Erfahrungen hinausreichte. Die französische Ausgabe erschien 1957 - ein Jahr nach der Unabhängigkeit Tunesiens und mitten im Unabhängigkeitskriegs Algeriens. So wurde es in Frankreich, obwohl weniger radikal als die Thesen eines Frantz Fanon, von einigen als das »störendste Buch es Jahres« bezeichnet - und breit diskutiert. Im Vorwort der englischen Ausgabe schreibt er: »Ich war Tunesier, also kolonisiert. Ich entdeckte, dass wenige Aspekte meines Lebens und meiner Persönlichkeit unberührt von diesem Fakt blieben.«

Gerade jetzt, wo manche den postkolonialen Studien eine Unvereinbarkeit mit den Jüdischen Studien attestieren, ist das Werk Albert Memmis eine wertvolle Lektüre. Er rekurriert immer wieder auf seine jüdische Identität: »Die jüdische Bevölkerung identifizierte sich ebenso viel mit dem Kolonisator als mit den Kolonisierten.« Doch dieses widersprüchliche Verhältnis ist bei ihm nicht nur der jüdischen Erfahrung eigen. Vielmehr analysiert er das koloniale Machtverhältnis insgesamt als eines, dem eine merkwürdige Bindung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten innewohnt, von der es sich zu befreien gilt. Eine Befreiung, die mit der Revolte nicht getan ist. Wie ist es möglich, das Verhältnis zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren zu brechen und eine ganz eigenständige Erzählung zu finden? Diese Frage ist bis heute nicht befriedigend beantwortet.

Aus seinem Nachdenken über das koloniale Machtverhältnis entstand auch eine grundlegende Definition von Rassismus, die durch die französische Enzyklopädie »Encyclopædia Universalis« kanonisch wurde: Rassismus ist die »verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der eine Aggression gerechtfertigt werden soll.« Rassismus erfülle daher immer eine bestimmte Funktion.

Sechzig Jahre nach der Dekolonisierung sind Memmis Analysen des Machtverhältnisses zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren längst nicht obsolet geworden. Zwar hat sein 2004 erschienenes Buch »Porträt des Dekolonisierten« (»Portrait du décolonisé arabo-musulman et de quelques autres«) viele seiner Fans enttäuscht. Seine scharfe Kritik an den Dekolonisierten falle hinter seine eigene Kritik eines andauernden Machtverhältnisses zurück. Doch die Probleme der Dekolonisation scheinen bereits in seinem früherem Essay zum Kolonisierten auf.

Albert Memmi wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Er verstarb am 22. Mai in Paris.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -