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Russland sucht Normalität
Während Präsident Putin auf die Öffnung des Landes drängt, zögert Moskaus Bürgermeister Sobjanin
In Russland, so hat es den Anschein, hält nach dem Lockdown wieder ein wenig Normalität Einzug. Am Montag kehrte Wladimir Putin aus dem Homeoffice in den Kreml zurück. Noch mehr Symbolkraft strahlt seine am Dienstag verkündete Entscheidung aus, die Siegesparade, die am 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai nicht stattfinden konnte, nun am 24. Juni abzuhalten. An diesem Datum im Jahr 1945 marschierte die Rote Armee über den Roten Platz. Um Massenaufläufe zu verhindern, soll das »Unsterbliche Regiment« zum Andenken an Kriegsteilnehmenden nicht vor dem 26. Juli über die Bühne gehen. Offen bleibt, wann die ursprünglich für April angesetzte Volksabstimmung über Putins Verfassungsänderungen nachgeholt wird; vielleicht schon Anfang Juli.
Mitte Mai stimmte die Duma über eine Gesetzesänderung ab, wonach Wahlbeteiligungen in Zukunft sowohl per Brief, als auch in elektronischer Form vorgesehen sind. Bei der Abgabe ihres Votums für die neue Verfassung - und somit auch für den Präsidenten - sollen die Stimmberechtigten jedoch ausdrücklich persönliche Präsenz zeigen. Die Verbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 zwang den Kreml zur Korrektur des zeitlichen Ablaufs, am Sinn und Zweck der Veranstaltung hat sich nichts geändert. Nur stehen vielerorts geltende Ausgangsbeschränkungen und Selbstisolation einer Massenbeteiligung entgegen, weshalb so schnell als möglich Lockerungen erfolgen sollen.
In der Gesamttabelle der Länder mit den meisten Coronainfektionen nimmt Russland hinter den USA und Brasilien Platz drei ein. Seit bald zwei Wochen verringert sich landesweit der täglich registrierte Zuwachs an Neuinfizierungen, in Moskau sank er zuletzt auf 2140, wo mittlerweile bei über 16 Prozent der Bevölkerung Antikörper nachgewiesen wurden. Genesungen übersteigen die Neuansteckungen, dafür steigt die Zahl tödlicher Krankheitsverläufe, wenngleich die Todesrate derzeit nur etwa ein Prozent beträgt.
Allerdings legen höhere Sterberaten in Moskau im Vergleich zu den Vorjahren und von diversen Medien zitierte Aussagen von Ärztinnen und Ärzten die Schlussfolgerung nahe, dass längst nicht alle Coronafälle in der Statistik Berücksichtigung finden. Zudem finden sich auf Foren und in sozialen Netzwerken zuhauf Einträge von Menschen, die von vergeblichen Versuchen berichten, sich trotz Covid-19-Symptomen testen zu lassen und eine ärztliche Diagnose einzufordern.
Mitte Mai sprach Dschamaludin Gadschibragimow, Gesundheitsminister von Dagestan, einem weiteren Hotspot, im Interview mit einem bekannten Blogger von um vierfach höhere Zahlen an nicht in Krankenhäusern behandelten Lungenentzündungen, als in der Coronastatistik aufgeführt werden. So sollen 657 Menschen im Nordkaukasusrepublik an der Krankheit erlegen sein, offiziell bislang aber nur 130. Kurzfristig sorgte Dagestan damit für Negativschlagzeilen, doch nur Tage später hieß es, die Situation befinde sich unter Kontrolle. Über die Hälfte aller Regionen sei bereit, erste Schritte zur Aufhebung bestehender Beschränkungen einzuleiten, erklärte die Leiterin der Aufsichtsbehörde Rospotrebnadsor Anna Popowa am Sonntag. In etlichen Landesteilen waren schon zuvor Maßnahmen ergriffen worden, um das lokale Wirtschaftsgeschehen wieder in Gang zu bringen.
Dazu gehört auch die teilweise Rücknahme repressiver Überwachungsformen. Tatarstan hatte schnell wieder auf die Ausgabe elektronischer Genehmigungen für das Verlassen der Wohnung verzichtet, im Moskauer Umland wurden elektronische Passierscheine für die Nutzung von Bussen, Taxen oder des eigenen Autos am letzten Wochenende abgeschafft. Nicht aber in der Hauptstadt. Bürgermeister Sergej Sobjanin sträubt sich gegen Lockerungen und steht gleichzeitig unter Druck des Kremls, um dessen Normalisierungskurs umzusetzen.
Auch in der Bevölkerung sinkt die Bereitschaft, sich den herben Einschränkungen im Alltag zu unterziehen, während sich die Polizei merklich zurückhält. Etliche Dienstleistungen sind wieder zugänglich, obwohl nicht erlaubt. Autohäuser müssen geschlossen bleiben, aber wer einen Neuwagen kaufen möchte, muss nicht lange nach einer Option suchen. Während Geschäftsleute auf eigene Faust agieren, macht Sobjanin minimale Zugeständnisse, obwohl die Realität längst zwei Schritte voraus ist.
Neben der massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit hält er an einem weiteren Repressionsinstrument fest, das in Moskau für viel Kritik sorgt. Eine App, die alle installieren müssen, die selbst bei geringen Anzeichen einer Atemwegserkrankung pauschal unter Coronaverdacht stehen, generiert dermaßen viele Fehler, dass etwa 30 Prozent der registrierten Personen mit Bußgeldern bedacht wurden. Darunter sehr viele, die erwiesenermaßen nicht gegen das Verbot verstoßen haben, die Wohnung zu verlassen.
Unmut regt sich auch seitens des Krankenhauspersonals, und das nicht allein aufgrund völlig unzureichender Ausstattung mit Schutzkleidung. Wer mit COVID-19-Patienten in Kontakt kommt, hat Anrecht auf Risikozuschläge, die aber wurden bislang gar nicht oder nur in lächerlich geringen Beträgen ausbezahlt.
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