- Berlin
- Linke
Gipfelstürmer Udo Wolf tritt ab
Ein Besuch beim scheidenden Linksfraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus
Noch ist von Abschied wenig zu spüren, obwohl er kurz bevorsteht. Auf einem kleinen Beistelltisch des Büros von Udo Wolf liegen Flugblätter zum Mietendeckel und ein Heft mit der »Halbzeitbilanz nach zweieinhalb Jahren linker Beteiligung rot-rot-grüner Beteiligung in Berlin«. Hier, im Büro des Chefs der Linksfraktion im vierten Stock – unterm Dach des Abgeordnetenhauses –, liegt eines der wichtigsten Machtzentren der Berliner Linken. »Alle wollen regieren, wir wollen verändern.« Dieser Spruch an der Bürowand Wolfs steht für den Anspruch des Linksfraktionschefs – gleich neben einem Foto mit atemberaubender Bergkulisse, wo auf einem Gipfel die Linkspartei-Fahne gehisst wurde.
Der 57-jährige Wolf wollte immer hoch hinaus, sowohl in der Politik als auch im Extremsport. »Am Berg und in der Politik gibt es kein Pardon«, sagt Wolf. Nach elf Jahren und drei Konstellationen (Rot-Rot, Opposition und Rot-Rot-Grün) ist Wolf während der Coronakrise und der damit einhergehenden Grundrechtseinschränkungen zu der Einschätzung gelangt, dass er seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird, um den Fraktionsvorsitz in Regierungsverantwortung weiter auszufüllen. Wolf betont: »Ich ziehe mich politisch nicht zurück, ich gebe eine Funktion auf.« Im Rückblick lobt er das gute Verhältnis zu Carola Bluhm, seiner Co-Chefin, die derzeit krank ist, und mit der Wolf seit 2016 eine Doppelspitze bildete. Er spricht von einem »blinden Vertrauen« und der extremen Belastung. »Man muss jederzeit wie ein Zehnkämpfer im Stoff stehen«, sagt Wolf. Jeder Fraktionschef habe zwei Spezialgebiete, wo die Medaillen gewonnen werden, aber auch in den anderen Bereichen ist Fachwissen gefragt.
Die persönliche Bilanz der letzten Jahre mit Rot-Rot-Grün fällt positiv aus. »Es waren die erfolgreichsten der Karriere von Carola und mir«, sagt Wolf. Er verweist auf den Paradigmenwechsel in der Haushaltspolitik, den Mietendeckel sowie die Belebung des gemeinwohlorientierten Wohnungsbaus. Auch der Öffentliche Dienst hat unter Rot-Rot-Grün einen neuen Stellenwert erhalten. Nicht zu vergessen die Investitionsoffensiven und die Stärkung des Öffentlichen Eigentums im Allgemeinen.
Nach den leidlichen Erfahrungen von Rot-Rot ging die Linke ab 2016 diesmal ganz anders an die Regierungsbeteiligung heran. »Wir haben unsere Lehren gezogen«, so Wolf. Soll heißen: Das Stigma »Pflegeleicht«, das einige in der SPD der Linkspartei anhängten, sollte unbedingt abgelegt werden – eine Aufgabe, die nicht zuletzt mit der Funktion des Fraktionsvorsitzenden zusammenhängt. Und Konflikte gab es unter Rot-Rot-Grün von Anbeginn: die Debatte um den Wohnen-Staatssekretär Andrej Holm oder die schwierigen innenpolitischen Diskussionen über die Aufrüstung des Sicherheitsapparates nach dem islamistischen Attentat auf den Breitscheidplatz.
Für Udo Wolf, der sich als Bürgerrechtler sieht und dessen Spezialgebiet viele Jahre die Innenpolitik war, sind die »Law-and-Order«-Vorstellungen seit je ein Graus. Nicht zuletzt die Grundrechtseinschränkungen der vergangenen Wochen treiben ihn um. Dass er mal eine »Ausgangssperre« mittragen wird, die normalerweise nur von rechten Militärs verhängt wird, hätte sich der in marxistischen Gruppen gestartete Wolf sicherlich nicht vorstellen können. Und dies dann auch noch auf einer »abenteuerlichen« Datengrundlage. »Es ist schwierig, einfach sachliche Fragen zu stellen«, sagt der scheidende Fraktionschef angesichts der zugespitzten gesellschaftlichen Debatten.
Extrem aufgeladen sind unterdessen auch die Diskussionen in der Linksfraktion selbst, die durch die für viele überraschend frühe Ankündigung eines Generationswechsels an der Linksfraktionsspitze ausgelöst wurden. Die Wunschkandidaten von Wolf und Bluhm, Anne Helm und Carsten Schatz, stoßen nicht überall auf Zustimmung. Insbesondere aus Kreisen des Landesvorstands der Linkspartei gibt es Vorbehalte. Ebenso unter einigen Abgeordneten. Eine offizielle Gegenkandidatur lag – Stand Donnerstag – allerdings nicht vor. »14 bis 16 Stimmen werden Anne Helm und Carsten Schatz sicher bekommen«, sagt ein Insider aus der Fraktion. Das wäre eine Mehrheit. Trotz aller Kritik und Frustration über das Verfahren köchelte die Personaldebatte zuletzt eher unterschwellig, in der Hauptsache beschäftigte sich die Fraktion nämlich mit verschiedenen Papieren, wie sich die Abgeordneten in Zukunft inhaltlich und strukturell aufstellen wollen.
»Ich habe mich ein bisschen verschätzt, was das an Debatten in der Partei und der Fraktion auslöst«, kommentiert Wolf den Aufruhr in der ansonsten geschlossenen Linken. Dabei sei es in der PDS und später der Linkspartei gute Tradition gewesen, Nachfolger vorzuschlagen. Wolf zählt zwei Wechsel der Landeschefs aus der Vergangenheit auf. So habe es einst auch Vorbehalte gegen einen gewissen Klaus Lederer gegeben, als der 2005 Landesvorsitzender wurde. Heute ist Lederer unangefochtener Vizesenatschef und aller Wahrscheinlichkeit nach wird er erneut Spitzenkandidat für die Abgeordnetenhauswahl 2021. Wolf betont: »Carola und ich stehen voll inhaltlich zu dem Vorschlag.« Helm habe sich als undogmatische Linke auf die Linkspartei eingelassen und Schatz habe die organisationspolitische Erfahrung und den Parteihintergrund.
Als Abgeordneter will Gipfelstürmer Wolf nach der Zeit als Fraktionschef Rot-Rot-Grün weiter zum Erfolg führen. Und: »Ich will 2021 das Direktmandat in meinem Wahlkreis in Pankow verteidigen.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.