- Der Heppenheimer Hiob
- Deutsche Bahn
Senk ju vor nasing
Warum es in der Coronakrise nicht ausreicht, dass die Bahn Reisende via App vor halbvollen Zügen warnt
Sag noch einer, die Bahn sei kein modernes Unternehmen. Die Coronakrise ist noch keine drei Monate alt, schon zieht sie digital nach. Mit einer App. Genauer gesagt: Mit einem Update der bereits bekannten Bahn-App. Die zeigt jetzt dem Kunden bereits einen Zug als überfüllt an, wenn dieser erst zur Hälfte gefüllt ist. So weiß der Bahnreisende, was ihn erwartet und kann selbstbestimmt umswitchen auf eine andere Verbindung mit demselben Zielort. Wenn die dann auch mit der Hälfte schon überfüllt ist, dann senk ju vor not träwelling wis Deutsche Bahn, versuchen Sie es doch morgen nochmal.
Regional- und Fernzüge sind im Regelfall schon in normalen Zeiten heillos überfüllt. Nicht selten ist ein Zug gerammelt voll mit stehenden Mitfahrern, weil Waggons ausgefallen und abgekoppelt wurden. »Fahrgäste« kann man diese Art von zahlendem Publikum nun wirklich nicht nennen, denn niemand würde einen Gast so gleichgültig behandeln und ihm nicht mal eine Sitzgelegenheit anbieten. Schon mit der ganz normalen Taktung der Vor-Corona-Zeit kommt die Bahn da an die Grenzen, wenn das Fahrgastaufkommen wieder anzieht – und das tut es ja jetzt schon.
Nicht mal zu festen Sitzplätzen, einer Reservierungspflicht, konnte sich das Unternehmen im Zuge der aktuellen Krise durchringen. Die gibt es im europäischen Ausland, jedenfalls im Fernverkehr, hingegen auch in gesunden Zeiten. In Frankreich gibt es keine Reservierungspflicht dem Wortsinn nach, wie man das zuweilen in den letzten Tagen in der Tagespresse las, sondern man ordnet dem Ticketkäufer direkt einen festen Platz zu. Die Deutsche Bahn scheut so ein Prozedere, weil sie verkürzte Züge gerne sehr stark auslastet.
Wie so oft präsentierten die Qualitätsmedien dieser Republik den neuesten digitalen Sprung des Konzerns gekonnt unkritisch. Zwar beanstandete man dezent, dass es eben keine feste Sitzplatzverteilung geben wird, aber das Grunddilemma der Deutschen Bahn, nämlich ein Betrieb zu sein, der seit Jahrzehnten gewollt auf Verschleiß fährt, brachte man gar nicht erst aufs Tapet. Aus dieser Vorgeschichte heraus ist eine halbwegs akzeptable Sicherstellung der Nachfrage in den nächsten Wochen und Monaten gar nicht leistbar. Jedenfalls nicht nach den momentanen Hygienevorstellungen.
Dabei sollte man diese Krise als Chance sehen. Als Chance, um endlich die Infrastruktur wieder zu festigen; das Wohl der Fahrgäste – und als Bürger auch der »Anteilseigner« dieses eigentlichen Staatsbetriebes – hat endlich wieder Priorität zu erlangen. Diese App, die nur wohlfeil darauf aufmerksam macht, dass der Zug fünfzigprozentig voll sein könnte, sagt doch eigentlich auch aus, wie dieses Unternehmen von seinen Kunden denkt: Sie sind ihm scheißegal. Diese Kundenorientierungslosigkeit hat System.
Sie macht das System Deutsche Bahn seit mindestens zwei Jahrzehnten aus. So wird es den Fahrgästen schwer gemacht an Bahnhöfen, dort gibt es immer weniger Fahrkartenautomaten, Schalter sowieso nicht mehr – wenn es überhaupt noch einen Bahnhof und Gleise vor Ort gibt. In den Zügen ist es dreckig, eng, Toiletten und Zugangstüren sind defekt – wenn sie überhaupt noch fahren. Die Bahn plant wie in Hamburg oder Stuttgart an den Bedürfnissen der Bürger vorbei architektonisch fragwürdige, ökologisch desaströse Bahnhofsprojekte, die sie sich noch nicht mal finanziell leisten kann – da geht es immerhin um Geld, das bei der Instandsetzung und Modernisierung fehlt.
Wenn die einzige Antwort der Bahn in Corona-Zeiten eine mickrige App ist, die das schmale Angebot mit einem Warnhinweis ausstattet, dann steht es echt schlecht um das Fortkommen im Lande. Mit der Mobilitätswende wird es so ganz sicher nichts. Noch nicht mal diese Krise, in der es ja speziell jetzt um die Vermeidung von Enge, Aufeinandersitzen und Distanzlosigkeit geht, etwas was schon lange bevor das Virus in unser Leben trat, mehr und mehr unseren Alltag prägte - ja nicht mal jetzt kommt mehr Mobilität, kommen mehr Züge auf die Schienen. Stattdessen gibt es aus Öffentlichkeitsgründen ein neues, der Presse gut präsentierbares Gimmick bei der Verwaltung der eigenen Gleichgültigkeit gegenüber den Kunden, denen der Betrieb sogar noch gehört. Senk ju vor nasing …
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.