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Sind die Schwarzen Löcher des Rätsels Lösung?
Neue astrophysikalische Hypothese zur Erklärung der Dunklen Materie.
Eigentlich sollte Günther Hasinger, der wissenschaftliche Direktor der Europäischen Raumfahrt-Agentur (ESA), im traditionsreichen Magnus-Haus in Berlin sprechen. Doch in Coronazeiten wurde daraus ein »Webinar« - sein Vortrag für die rund 200 angemeldeten Teilnehmer wurde aus Madrid übertragen, und die Zuhörer saßen vor ihren Computerbildschirmen. Das große Interesse war verständlich, ging es doch wieder einmal um die rätselhafte Dunkle Materie. Seit 90 Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft mit diesem Phänomen, ohne bisher sagen zu können, worum es sich dabei handelt.
Es muss mehr Masse im All sein, als man sehen kann
Aus Beobachtungen von Sternen in Galaxien und von Galaxien in Galaxienhaufen weiß man, dass sich deren Bewegungen nur erklären lassen, wenn viel mehr Masse vorhanden ist, als man sehen kann. Diese Dunkle Materie wirkt zwar durch ihre Gravitation, bleibt aber ansonsten verborgen. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine spitzfindige Kleinigkeit, denn nach neueren Untersuchungen besteht das Universum zu rund 80 Prozent aus jener ominösen »Substanz«, also ungleich mehr als der Anteil der sichtbaren Objekte des Weltalls.
Verständlicherweise wollen die Forscher wissen, was sich dahinter verbirgt. Der Fantasie waren gleichsam keine Grenzen gesetzt. So entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Vorstellungen über die mögliche Natur der Dunklen Materie. Spekulative Elemente im Forschungsprozess sind zwar nötig, doch sie müssen überprüfbar sein. Besonders die Elementarteilchenphysiker »konstruierten« zahlreiche hypothetische Teilchen mit bestimmten Eigenschaften als Kandidaten für die Dunkle Materie. Doch gefunden hat man trotz modernster Technik noch keines von ihnen. Auf diese Weise erklärte man etwas, das man nicht verstand, mit etwas anderem, das man nicht nachweisen konnte.
Doch wir kennen ja seit Langem Objekte im Universum, die man - wie auch die Dunkle Materie - nicht sehen kann und die dennoch nachweislich existieren: die Schwarzen Löcher. Deren Gravitation ist wegen der enormen Dichte der Materie in diesen so groß, dass ihnen keine elektromagnetischen Wellen entkommen können, sodass sie unsichtbar bleiben. Der seit Längstem bekannte Entstehungsmechanismus für Schwarze Löcher ergibt sich aus der Evolution massereicher Sterne, die am Ende ihres »Lebensweges« in einer Supernova-Explosion enden und zu einem Schwarzen Loch kollabieren. Die typischen Massen solcher Schwarzen Löcher liegen zwischen einer und 100 Sonnenmassen. Doch inzwischen kennen wir auch andere »Sorten« von Schwarzen Löchern mit ganz unterschiedlichen Massen, die auch ganz verschiedenartige Entstehungsgeschichten hinter sich haben müssen. So bringt zum Beispiel das gigantische Schwarze Loch in der Hauptgalaxie des Virgo-Galaxienhaufens etwa drei Milliarden Sonnenmassen auf die Waage. Das Schwarze Loch im Zentrum unseres Milchstraßensystems umfasst hingegen »nur« rund vier Millionen Sonnenmassen.
Jüngste Entdeckungen wiesen mehrere »intermediäre« Schwarze Löcher mit Massen im Bereich von 10 000 bis 100 000 Sonnenmassen nach, die so etwas wie ein noch fehlendes Glied in der Kette darstellten. Hinzu kommen die von Stephen Hawking und Bernard J. Carr bereits Anfang der 70er Jahre postulierten »primordialen« Schwarzen Löcher. Diese ausgesprochenen Winzlinge von der Dimension eines Atomkerns, jedoch mit einer Masse von einer Milliarde Tonnen sollen unmittelbar nach dem Urknall entstanden sein. Ob diese hypothetischen Gebilde allerdings eine genügend hohe Lebenserwartung besitzen, um noch heute - nach 13,8 Milliarden Jahren - vorhanden zu sein, ist in der wissenschaftlichen Community heiß umstritten. Ihr Nachweis ist extrem schwierig. Sie können bestenfalls per »Mikrolensing« aufgespürt werden. Sie wirken dann wie eine optische Linse, krümmen die Raumzeit in ihrer Umgebung, was man an direkt dahinterliegenden Sternen erkennen könnte. Vor allem das »Optical Lensing Gravitational Experiment« (OGLE) der Warschauer Universitätssternwarte widmet sich solchen Untersuchungen. Dort wurden gerade mehrere Dutzend Mikrolinsen-Effekte gefunden; bei 20 von ihnen konnten durch die GAIA-Mission die Entfernungen bestimmt werden. Es wird vermutet, dass es sich bei diesen Objekten um primordiale schwarze Löcher im Massenbereich von einer bis zehn Sonnenmassen handelt, weil normale Sterne in dieser Distanz optisch beobachtbar sein müssten. Sollte sich diese Deutung bewahrheiten, verfügen wir jetzt über ein gigantisches Massenspektrum ganz unterschiedlicher Schwarzer Löcher.
Röntgensatelliten liefern Beobachtungsdaten
Hasinger ist international vor allem als ausgewiesener Spezialist für Röntgen- und Gammastrahlenastronomie bekannt. Da man Schwarze Löcher nicht sehen kann, ist er mit zahleichen Kooperationspartnern aus aller Welt der Frage nachgegangen, welchen Anteil die verschiedenen Schwarzen Löcher an der Hintergrundstrahlung haben, die uns aus allen Richtungen des Kosmos erreicht. Der Hauptanteil wird von der bekannten kosmologischen Hintergrund-Strahlung (3-K-Strahlung) gebildet, die als »Echo des Urknalls« aus der Zeit rund 380 000 Jahre nach dem Big Bang stammt. Die Wellenlängen dieser Strahlung liegen im Mikrowellenbereich.
Der diffuse Röntgenhintergrund blieb jedoch lange geheimnisvoll, da man ihn zunächst keinen einzelnen Quellen zuordnen konnte. Es hat rund drei Jahrzehnte gedauert, bis dies durch immer bessere Röntgensatelliten wie ROSAT, Chandra und andere endlich gelang. Dabei zeigte sich, dass der überwiegende Teil dieser Strahlung durch das Wachstum supermassiver Schwarzer Löcher in den Kernen aktiver Galaxien verursacht wird. Die Schwarzen Löcher saugen nämlich Materie aus ihrer Umgebung auf, wodurch es in den entsprechenden Akkretionsscheiben zu heftigen Gammaemissionen kommt.
Der noch fehlende Rest - so zeigten jetzt Korrelationen zwischen Messungen im Röntgenbereich und im Infraroten - lässt sich gut erklären, wenn man ihn den primordialen Schwarzen Löchern zuschreibt. Aufgrund einer von seinem spanischen Kollegen Juan Garcia-Bellido angenommenen Massenverteilung der primordialen Schwarzen Löcher schätzte Hasinger deren Anteil an der Röntgenhintergrundstrahlung ab und fand eine gute Übereinstimmung.
In der Diskussion machte Günther Hasinger keinen Hehl daraus, dass ihm seine »Spekulation« über die Dunklen Materie als Wirkung primordialer Schwarzer Löcher unterschiedlicher Massen auch besonders deshalb gut gefällt, weil sie keinerlei zusätzliche Annahmen benötigt. Wie bei »Ockhams Rasiermesser«, benannt nach dem englischen Philosophen Wilhelm von Ockham (1288-1346), kann man alle anderen Erklärungen einfach wegrasieren, falls diese eine stimmt. Die beste von mehreren Theorien sei immer die einfachste, hatte Ockham einst gemeint. Das ist allerdings auch ein nicht bewiesener Satz. Nun darf man gespannt sein auf das Urteil von Hasingers Kollegen, vor allem aber auf noch bessere Messdaten des 2019 gestarteten eROSITA-Röntgenteleskops und des geplanten »Advanced Telescope for HighEnergy Astrophysics« (ATHENA), das aber frühestens 2031 aktiv werden soll.
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