- Politik
- Coronavirus
Hilferuf aus dem Amazonas
Die Indigenen in Brasilien sehen sich durch Covid-19 mit einer neuen Bedrohung konfrontiert
Ein Zentrum der Seuche ist der größte Bundesstaat Amazonas. Allein vom Stamm der Kokama, die am Rio Solimões im oberen Amazonas-Flusssystems siedeln, starben 42 ihm Angehörige an der Krankheit. Besonders dramatisch ist die Situation in der Hauptstadt von Amazonas Manaus. Die speziell für die Ureinwohner zuständige Gesundheitsbehörde musste einräumen, dass sich im dortigen Haus für indigene Gesundheit viele Patienten mit anderen Krankheiten Infektionen mit dem Coronavirus infizierten und als potentielle Überträger in ihre Dörfer zurückkehrten.
Während in Manaus die Kapazitäten der Krankenhäuser bereits völlig ausgelastet sind, wird jetzt auch die Lage im Hinterland von Amazonas immer kritischer. Das einzige Krankenhaus, das dort über eine Intensivstation verfügt, befindet sich mehr als 500 Kilometer entfernt von der Hauptstadt in Tefé.
Im ebenfalls im Amazonasgebiet gelegenen Bundesstaat Roraima an der Grenze zu Venezuela beschlossen die Yanomani nach dem ersten Todesfall im April, sich zum Schutz vor Ansteckung tiefer in den tropischen Regenwald zurückzuziehen. Auf das Gebiet der Yanomami waren zuvor bereits mehr als 20000 illegale Goldsucher vorgedrungen. Dennoch steckten sich hier im Mai nicht nur 76 medizinische Fachkräfte an, es starben auch zwei weitere Yanomani.
Von der Epidemie stark betroffen sind auch der Nordosten Brasiliens und die Bundesstaaten Minas Gerais und Espirito Santo, wo sich indigene Siedlungen häufig in völlig verarmten Gebieten befinden. Hier gab es in diesem Teil der Bevölkerung bisher mindestens 21 Todesfälle. Wie überall in Brasilien untertreiben die offiziellen Zahlen für Covid-19 die Lage. Sonia Guajajara, Präsidentin von APIB, wies darauf hin, dass die der Gesundheitsbehörden von denen der durch die indigene Bewegung ermittelten Fallzahlen »absurd abweichen«. Verantwortlich dafür macht sie die »Fahrlässigkeit des brasilianischen Staates und institutionalisierten Rassismus«.
Für die gesundheitliche Betreuung der auf dem Land lebenden Indigenen sind in Brasilien 34 spezielle Gesundheitsbezirke (DSEI) zuständig. Allerdings lebt mehr als ein Drittel dieser Bevölkerungsgruppe in Städten und fällt aus der Versorgung durch DSEI heraus. Sie müssen sich an das allgemeine öffentliche Gesundheitssystems SUS halten, wo die Diskriminierung Indigener Alltag ist.
Auch die staatliche Behörde für die Angelegenheiten der Indigenen FUNAI tut nicht, was sie sollte. An ihrer Spitze steht heute der frühere Polizist und Berater der Großgrundbesitzer-Lobby im Parlament Marcelo Xavier. Das Fehlen einer nationalen Strategie der Regierung von Präsident Jair Bolsonaro im Kampf gegen die Covid-19-Seuche trifft die indigenen Völker in allen Teilen besonders hart und verschärft ihre bereits dramatische Lage weiter.
Im vergangenen Jahre waren 150 indigene Territorien vom Eindringen von Landräubern, Holzfällern und Goldsuchern betroffen, die von Regierung dazu ermutigt wurden. Sie brennen den Wald nieder, ermorden Stammeshäuptlinge und indigene Aktivisten. Die Bolsonaro-Regierung unterstützt auch evangelikale Missionare dabei, Indigene um jeden Preis zu ihrem Glauben zu bekehren.
Ein vor kurzem öffentlich gewordenes Video einer Kabinettssitzung in Brasíla dokumentiert die Aussage des Bildungsministers, dass er indigene Völker hasse. Umweltminister Ricardo Salles erklärte in derselben Runde, man solle die Covid-19-Krise nutzen, um Umweltauflagen abzuschaffen.
Im Kongress und vor dem Obersten Gerichtshof wird derweil um die Gesetzesnovelle PL-2633 gerungen, mit dem die Regierung die Besetzung großer Ländereien durch Latifundisten im Amazonasgebiet und anderen Regionen Brasiliens legalisieren möchte. Ansprüche Indigener sollen nur noch gelten, wenn sie bereits 1988 anerkannt waren. Auf das Konto solcher Landräuber und ihrer Helfer gehen die Abholzung und Zerstörung großer Waldgebiete und zahlreiche Verbrechen an den indigenen Völkern.
Gleichzeitig waren die brasilianischen Ureinwohner noch nie so gut organisiert wie in diesen schwierigen Zeiten. Im Mai veranstaltete APIB als Onlinekonferenz eine Nationalversammlung des indigenen Widerstands einberufen, um über die Lage in den Regionen und Dörfern während der Pandemie zu beraten. Organisationen wie die der »Indigenen Frauen von Alto Rio Negro« im Amazonas sammeln weltweit Geld für den Kauf von Lebensmitteln, Medikamenten und Schutzmitteln gegen die Seuche.
Bereits seit dem Beginn der Kolonisierung Brasiliens vor 520 Jahren müssen die Völker seiner Ureinwohner um ihr Leben und für ihre Rechte kämpfen. Heute geht es um ihre Territorien und den Schutz der Umwelt, besonders aber um die gesundheitliche Versorgung angesichts von Covid-19.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.