Eh ichs vergesse
Nur so ein Gefühl: Kabarett ist verdächtig
1997 Vorwörter
1. Ich bin Ein kleinbürgerlicher Revolutionär. Ich sitze gern an meinem Goldfischteich und denke über die Veränderbarkeit der Welt nach.
Werner Schneyder sah in ihm einen »Zerrissenen zwischen geträumter Utopie und Realität, zwischen Trotz und Resignation, zwischen Unbeirrbarkeit und Betroffenheit«; Dieter Hildebrandt wünschte ihm »das bleibende Vertrauen seiner Anhänger« und zählte sich selbst dazu; und Peter Ensikat nannte seine Satire eine, »bei der der Spaß aufhört, harmlos zu sein«.
In 50 Jahren als Autor am Dresdner Kabarett »Herkuleskeule« und 30 Jahren als Kolumnist der »Sächsischen Zeitung« wurde Wolfgang Schaller wie kaum ein anderer im Osten satirischer Chronist der Zeit vor und nach dem Jahr null der neuen Zeitenrechnung. Seine Texte sind mal heiter oder nachdenklich, mal komisch oder böse provokant. Manche seiner Kabaretttexte und Kolumnen sind Kult und gerade jetzt nach 30 Jahren deutscher Einheit hochaktuell.
2009 mit dem Stern der Satire auf dem »Walk of Fame« des Kabaretts und 2018 als Dresdner des Jahres ausgezeichnet, macht sich Schaller zu seinem 80. Geburtstag mit diesem Buch selbst ein Geschenk - für die Leserinnen und Leser wird es auch eines sein.
Wolfgang Schaller, geboren 1940 in Breslau, absolvierte nach einer Lehrerausbildung ein Studium am Leipziger Literaturinstitut und leitete ein Jugendkabarett in Görlitz. 1970 ging er als Dramaturg und Autor ans Dresdner Kabarett »Herkuleskeule«. Der Stadt und dem Kabarett hält er seit 50 Jahren die Treue: als langjähriger künstlerischer Leiter, später als Intendant und auch als Akteur, der unter anderem gemeinsam mit Wolfgang Stumph und Rainer Schulze auf der Bühne stand.
Wer Visionen hat, muss zum Arzt gehen, sagte Doktor Allwissend. Auch einem klugen Mann gelingt einmal ein dummer Spruch. Ohne Visionen gäbe es Stillstand. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien. Sagte Oscar Wilde. Utopien sind eine Fata Morgana. Gehen wir auf sie zu, entfernt sie sich. Gehen wir weiter auf sie zu, entfernt sie sich weiter. Wir kommen nie an. Aber wir bewegen uns. Ich erinnere mich noch genau an jenen Oktobertag vor dreißig Jahren: Ich war in einem anderen Land. Ich wollte in kein anderes Land. Dort, wo ich herkam, war ich nicht zu Hause. Dort, wo ich hinkam, wollt ich nicht hin. Ich bin nicht weggegangen. Ich bin nicht angekommen. Als die Mauer fiel, da wusste ich: Jetzt ist es aus mit dem Traum vom menschlicheren Sozialismus. Das war ein Traum, den ich gar nicht mehr hatte. Aber dann kam der Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost. Und da hatte ich noch mal den Traum. Er war wie ein Strohhalm, an dem ich mich festhielt. Mit der Lüge Hoffnung schrieb es sich besser. Ich habe an einen besseren Sozialismus geglaubt. Seitdem weiß ich, wie schön auch für einen Atheisten Glaube sein kann. Ich bin wohl den Traum zu spät losgeworden. Nach jenen Oktobertagen 89 war ich plötzlich umgeben von lauter Widerstandskämpfern, die saßen alle gestern noch im Hintern der Partei. Ich kannte Rotkehlchen, die zur Wendezeit als Haubentaucher abtauchten und dann als alternde Schwarzdrossel wieder auftauchten. So vögelt’s sich’s gut durch die deutsche Geschichte. So schnell konnte ich nicht umvögeln.
Damit Sie mich richtig missverstehen: Wir leben in einem schönen Land. Den meisten geht es gut. Vielen geht es so gut, wie es noch niemandem in diesem Land gutging. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir haben alles, was wir nicht brauchen. Die meisten haben so viel, dass sie gar keinen Grund mehr sehen, früh aufzustehen. Und das ist vielleicht der Grund, warum wir verloren sind: Wir brauchen keine Träume mehr von einer besseren Welt. Wir haben keine Utopien mehr. Wir sollten zum Arzt gehen.
»Der Traum wird geträumt werden bis zum Untergang der Welt. Menschen, denen das Träumen verwehrt wird, haben keine andere Heimat als den Wahnsinn.« Das sind Sätze von Heiner Müller, dem großen Dichter. Das Schönste an der DDR war der Traum von ihr. Das Schlimmste an der DDR war ihre Wirklichkeit. Das war ein vormundschaftlicher Staat mit Gesinnungsterror und Repressalien gegen Andersdenkende. Dieser Sozialismus musste untergehen. Weil er keiner war. Der Kapitalismus wird untergehen. Weil er einer ist. Die DDR war eine Diktatur der Ideologie. Der Kapitalismus ist eine Diktatur des Geldes. Wer Geld hat, für den ist der Kapitalismus die reinste Freiheit. Ohne Geld ist die Freiheit der reinste Kapitalismus. Nun sagten meine Kollegen und Freunde zu mir: 30 Jahre deutsche Einheit - du kannst darüber erzählen, du in deinem Alter. Na gut, das klingt so, als wäre ich bei der Oktoberrevolution schon dabeigewesen. Aber nun haben Sie mit diesem Buch meine gesammelte Sprachlosigkeit zwischen einem verlorenen Dreigroschenstaat in der Diktatur und einer verlorenen Geldanlage in der Freiheit gekauft. Es schadet mir nicht, wenn Sie meine Notizen aus der fernöstlichen Provinz gar nicht erst lesen. Sie haben das Buch gekauft, ich erhalte zehn Prozent des Kaufpreises - der Geschädigte sind also höchstens Sie. Sie tun mir leid. Und wenn Sie beim Lesen feststellen, dass Sie ganz anderer Meinung sind - ich gestehe Ihnen: Ich kann meine Meinung auch nicht leiden. Sie macht mir nur Ärger. Aber ich habe leider keine andere.
2. Ich würde mich auch heute noch dagegen verwahren, dass ich Ein alter Mann bin, aber:
Das Elend hat angefangen, als ich in London in einen dieser überfüllten roten Busse stieg. Da stand ein junger Moslem auf und hat mir seinen Sitzplatz angeboten. Mit einer Geste machte er mir klar, dass ich alt bin. Ich gestehe, dass ich in diesem Augenblick für Sekunden einen Anfall von Fremdenfeindlichkeit verspürte. Da muss ich dem Seehofer recht geben: Moslems sind ein völlig fremder Kulturkreis. Einem Älteren einen Sitzplatz anbieten - in unserem Kulturkreis käme niemand auf diese Idee. Dann begannen die Auszeichnungen, die man automatisch erhält, wenn die Urne naht. Denn Preise sind wie Hämorrhoiden, früher oder später erhält sie jedes Arschloch (ein Satz von Billy Wilder). Dass ich Ehrenkommissar der Polizei wurde, überraschte selbst unseren Landtagspräsidenten, der den Zu-Ehrenden küren sollte und mich beim festlichen Empfang mit den Worten begrüßte: Nanu, was suchen Sie denn hier? Ich verstehe seine Verwunderung, ausgerechnet mir Pazifisten einen Gummiknüppel und Handschellen überreichen zu müssen, Symbole, die ich inzwischen einem Sadomaso-Club geschenkt habe, wo Menschen daran sicher Freude haben.
Mit meiner Nationalpreisspange habe ich übrigens einem Schweizer Freund die Ordenssammlung bereichert. Es war ein beruhigender Augenblick, als zum Auszeichnungsakt das gesamte Politbüro der SED an mir vorbeizitterte: Die waren alle älter als ich. Mir fiel der Kalauer ein: Tagesordnungspunkt eins: Einmarsch des Politbüros, Tagesordnungspunkt zwei: Einschalten der Herzschrittmacher. Dass der Fotograf ausgerechnet jene Sekunde festhielt, in der mir Honecker die Hand schüttelt, setzt mich heute dem öffentlichen Bannfluch aus. Peter Ensikat und ich waren mit unseren Stücken in der Hauptstadt verboten, ich durfte dort nicht lesen. Wie gut passte das heute ins Poesiealbum des Widerstands, würde nicht dieses Foto alles versauen. Meine Kollegen nennen mich seitdem »Untergrundkämpfer mit hohen staatlichen Auszeichnungen«. Wir hatten damals etliche Rechtfertigungen parat, warum wir den Preis annahmen. Zensoren könnten nicht mehr so viel herumzensieren, hofften wir. Aber es war vor allem die Lust am Irrwitz, dass uns Honecker einen Preis überreichen musste, ein alter Mann, der uns lieber der Konterrevolution bezichtigen würde, hätte er unsere Texte gekannt. 1987 beorderte mich die Bezirksleitung zu einer Aussprache über einen Text, in dem der Sekretär eine Anspielung auf das Politbüro zu entdecken glaubte: Mit dem Vorturner würde ich Erich Honecker meinen. Ich antwortete, dass es nicht meine Schuld sei, wenn er so schmutzige Gedanken habe. Das müsse ich eigentlich melden. Der Text durfte gespielt werden.
Die wertvollsten Preise sind die, die man nicht erhält. Die Stadt Dresden hat mir viermal den Kunstpreis verweigert. Das ist für einen Satiriker eine Ehre. Seit ich den Spruch las »Jedes Gemeinwesen ehrt seine gestorbenen Störenfriede«, erschreckt mich die Ahnung, sie könnten es mir postum noch antun.
Es gibt eine Ehrung, auf die ich stolz bin. 2018 haben mich Leser zum Dresdner des Jahres gewählt, eine Auszeichnung, die mir nicht zusteht angesichts der vielen großartigen Künstler, Wissenschaftler und Ärzte in dieser Stadt. Aber die sind halt alle jünger, da kann ich nichts dafür. »Herr Professor«, versuchte ich einen wunderbaren Chirurgen zu trösten, »werden Sie erst einmal achtzig, dann können Sie beim OP die Skalpellwunden mit ihren Ehrennadeln zunähen.«
Sie meinen es gut mit mir. Eine ältere Dame, die ihren Pekinesen Gassi führte, sprach mich kürzlich an: »Herr Schaller, bitte bleiben Sie uns noch ein bisschen erhalten.« Ein Lob kann ein Würgegriff sein. Ich gehe gern über Friedhöfe. Ich lese gern Grabinschriften. Meine liebste: Auf dem einen Grabstein steht: Hier ruht Waclaw Kasimir, der große Hütchenspieler. Und auf dem nächsten Grabstein steht: Oder hier. Gräber machen Spaß. Aber mit zunehmendem Alter frage ich mich bei meinen Friedhofsspaziergängen, ob es sich noch mal lohnt, nach Hause zu gehen.
Wer möchte schon alt werden? Sie kennen doch das Märchen vom Frosch und dem sechzigjährigen Mann, der mit einer sechzigjährigen Frau zusammenlebt. Und der Frosch sagt zu dem sechzigjährigen Mann: Lieber Mann, du hast einen Wunsch frei. Und da sagt der sechzigjährige Mann: O ja, ich möchte eine dreißig Jahre jüngere Frau. Und schwups - war er neunzig.
22. Januar 2018, 17.22 Uhr.
Es klingelt im Foyer der Semperoper zum zweiten Mal. Die Götterdämmerung wird fünf Stunden dauern. Ich habe Rücken. Warum gibt es von Wagner keine Kurzfassung für Rückenkranke? In der Staatsoperntoilette, vor dem Urinal, ist man nicht gerade darauf vorbereitet, dass der Herr vom Nebenurinal sich ohne Geschäftsunterbrechung zu mir dreht: »Ich lese immer Ihre Kolumnen, was sagen Sie denn dazu, Herr Schaller?«
»Ich habe dazu gar keine Meinung«, sage ich und ziehe mir etwas zu vorschnell und heftig den Reißverschluss wieder hoch.
»Ich frag ja bloß«, sagt der Mann und blickt wieder gegen die Fliesen, »weil Sie doch sonst immer einen Standpunkt haben.«
Vielleicht hatte ich früher einen Standpunkt, einen Klassenstandpunkt. Aber seit es keine Klassen mehr gibt, sondern nur Schichten, ist mein Standpunkt ein Gehpunkt. Wenn ich was denke, denk ich, das könnte die Wahrheit sein. Und dann denk ich das Gegenteil und denke, das könnte die Wahrheit sein. Ich bin gespalten. Die Regierung ist gespalten, die Parteien sind gespalten, das Volk ist gespalten. Warum sollte ausgerechnet ich nicht gespalten sein.
Ich hab manchmal so ein Gefühl, was die Wahrheit sein könnte. Gefühle schaffen heute Fakten. Europa ist ein bürokratisches Monster. Fakt ist: Das fühlen viele. Und dann wählt das Volk nach Gefühl. Heraus kommt der Brexit. Oder Trump. Es kam auch schon mal aus so einem Gefühl Hitler raus.
Lieber Herr am Urinal: Ich habe auf Ihre Fragen keine Antworten. Ich habe mich im »einzig rechtmäßigen deutschen Staat« oft im Recht geglaubt. Je mehr man sich im Recht glaubt, umso mehr kann man irren. Ich habe erfahren, wie sehr man sich irren kann. Deshalb bin ich misstrauisch geworden. Mein Glaube ist der Unglaube. Ich sehe fern, aber ich sehe nichts. Ich werde informiert, aber ich weiß nichts. Diese Einsicht ist meine Weisheit.
Napoleon hat gesagt: Die Wahrheit der Geschichte ist die Lüge, auf die sich eine Mehrheit geeinigt hat.
Erster Irakkrieg - Hussein lässt in Kuwait Babys an die Wand schleudern. Dann stellte sich heraus: Das war eine in US-Studios gedrehte Lügenstory. Zweiter Irakkrieg: Massenvernichtungswaffen, und dann fand man nicht mal eine Silvesterrakete. Und jetzt die Fakes und die News und die Fake News über Russland und den Iran und über AKK und FKK und AKW von AfD und ARD und ABC ...
Lieber Herr am Urinal: Was ich dazu sagen soll, weiß ich nicht. Ich fühl es nur.
Wolfgang Schaller:
Eh ichs vergesse.
Satirische Zeitensprünge
Eulenspiegel-Verlag
256 S., geb., mit zahlreichen Abbildungen, 15,00 €
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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