Athos der Förster
Kein Idyll: Überleben nach der deutschen Besatzung
Ich sehe die Menschen,
als sähe ich Bäume umhergehen.
Markusevangelium 8,24
Tritt sanft, du trittst ja auf meine Träume.
W. B. Yeats:
»Er wünscht sich die Kleider des Himmels«
Angelpunkt des Romans ist der 13. Dezember 1943, an dem die deutsche Wehrmacht als sogenannte Sühnemaßnahme für Partisanenüberfälle die gesamte männliche Bevölkerung des griechischen Bergdorfs Kalavryta auf der Peloponnes ermorden ließ. Anders als das französische Oradour-sur-Glane, das der Nachwelt vollständig als Ruine erhalten blieb, wurde Kalavryta von den zurückgebliebenen Frauen über den Trümmern wiederaufgebaut.
Stefanopoulous Roman stellt das Trauma der Überlebenden in der Perspektive von vier Frauen dar; sie repräsentieren die Auseinandersetzung mit dem Erinnern über die Generationen: die Großmutter, die in ihrem Hass auf Deutsche wie auf Partisanen und in ihrer Trauer um Mann und Sohn verstummt ist; die Tochter, die in der Großstadt alles vergessen will; die Enkelin, die nach Kalavryta zurückkehrt; und die Urenkelin, die sich schließlich aus dem Zirkel der Trauer lösen kann.
Die 1958 geborene Autorin Maria Stefanopoulou lebt in Athen. Sie studierte klassische und moderne Literatur in Rom und zog dann nach Paris, wo sie begann, in ihrer Muttersprache zu schreiben. Sie hat bereits drei Erzählbände sowie ein Theaterstück und mehrere Essays zu Literatur und Geschichte veröffentlicht. »Athos der Förster« (2014 im Original erschienen) ist ihr erster Roman, für den sie den Petros-Charis-Preis der Athener Akademie erhielt.
Michaela Prinzinger hat im Rahmen des Programms Toledo der Robert-Bosch-Stiftung und des Deutschen Übersetzerfonds ein hochinteressantes Arbeitsjournal zu ihrer Übersetzungstätigkeit an dem Roman geführt. Nachzulesen unter: www.toledo-programm.de/journale
Jahrelang habe ich den Mund gehalten. Wenn man sich in der Natur aufhält, lernt man, mit der Stille zu leben. Die Hirten, die ihr Dasein schweigsam und einsam verbringen, können
Dinge hören, die weit weg von ihrem Standort passieren - selbst am Berghang gegenüber, unten in der Ebene oder sogar tief im Erdinneren. Die Tiere, die ihrem Herrn für seine Fürsorge oder dem Menschen, der sie irgendwann aus einer Falle im Wald befreit hat, dankbar sind, sprechen mit Blicken, manchmal sogar mit menschlicher Stimme, wenn sie ihnen zu Hilfe kommen oder sie vor Gefahr bewahren wollen. Diese Blicke oder die Stimme, die einen Menschen - wie durch Zauberhand - auf entwaffnend unschuldige und sanfte Art aus einer Bedrängnis befreien können, sind so eindringlich, so uneigennützig und zugleich stolz, weise und klug, dass sie einem tiefen, undurchdringlichen Schweigen gleichkommen, wie es jedem Akt der Dankbarkeit ansteht.
In meiner Heimat, den hohen Bergen von Evrytania, heißt es, die menschlichen Laute der Vögel seien Stimmen von Toten, denen die gebührenden Ehren erwiesen wurden. Redet je ein Vogel mit menschlicher Stimme? In dem Maß wohl, wie ein Pferd sich mit seinem Reiter unterhält. Die Bergbewohner auf ihren Aussichtspunkten sind dem Himmel näher und erleben in der Abgeschiedenheit nicht viel. Doch die Natur mit ihrem weiten Horizont hält ihnen die Unendlichkeit vor Augen. Einfache Geschichten von der Erde und von mühseliger Arbeit, die diese Menschen abends am Feuer erzählen, gewinnen metaphysischen Charakter. Alles erhält eine Bedeutung, ja zwei oder drei, teils logisch und nachvollziehbar, teils unerklärlich, dunkel oder von Angst und Leidenschaft erfüllt, deren Schilderung diese Menschen innerlich erleichtert. In den großen, geschäftigen Städten dagegen kann es den Dingen gar nicht gelingen, irgendeine Bedeutung zu erlangen. Lärmige Eile überdeckt die Stille, menschliche Vogelstimmen sind dort nicht zu hören - wer hätte dafür schon die Geduld? Auch werden die Toten dort schnell, unpersönlich und ohne überflüssige Fürsorge auf den Friedhöfen begraben und sofort vergessen. Pferde gibt es nicht in den Städten, und schwermütig ziehen die Seelen durch baumlose Straßen, ohne Wasser und ohne Aussichtspunkte, im trügerischen Glauben, sich selbst zu kennen und daher Erklärungen gefunden zu haben für Wundersames - Sagen, Geister und Feen, die sich im Wirbelsturm der Bergwinde in den Wäldern verstecken. In meiner Familie, die auf den Rücken des Tymfristos- und Chelidona-Gebirges lebt, erzählt man sich, vom Schicksal am meisten begünstigt seien die gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen, die, um nicht in Gespenster verwandelt zu werden, ihre Wunden, bevor sie in die Erde kommen, versorgen lassen, nachdem sie etwa durch Blitzschlag oder Schlangenbiss, durch eine feindliche Kugel im Krieg, ja aus Neid oder Rache durch einen Messerstich ums Leben gekommen seien. Daher stoße der Vogel, der auf einem solchen Grabstein sitze, außer Gezwitscher auch menschliche Worte und Sätze aus. Dies sei die Stimme des Begrabenen, der den Lebenden für die Vergebung seiner Schuld oder für die Versorgung seiner tödlichen Verletzungen danke.
Als ich klein war, wusste ich nicht, was ein gewaltsamer Tod ist. Aber mein Gehör gewöhnte sich nach und nach an die vertraute menschliche Vogelstimme, immer wenn ich mich aus dem Dorf in den Tannenwald aufmachte oder wenn ich die Ziegenpfade vom oberen ins untere Viertel einschlug, von Agia Dynati bei den Wassertränken bis Zafeiromylos und Kamaterovryssi oder vom Ahornbaum in Agia Paraskevi bis zu den steilen, dicht bewachsenen Hängen von Apolykaina. Aus der Vogelstimme hörte ich den Segenswunsch meines Vaters Panaitogiannos heraus: »Ich wünsche dir einen friedlichen Tod!«
Er hatte als Soldat gleich zwei Kriege mitgemacht - die Balkankriege von 1912 und den Kleinasiatischen Feldzug ab 1921. Da er das Töten und Morden selbst erlebt hatte, träumte er von einem friedlichen Tod. Dieses eigentümliche Gefühl des Todes war mir bereits in jungen Jahren vertraut, als ich gleichmütig auf den moosigen Felsen lag, aus denen stürmisch Wasser sprudelte, meine nackten Arme und Beine schmerz- und lustvoll den Insekten ausgeliefert - Bienen, Wespen, Heuschrecken, Hornissen, Hummeln, schwarzen Raupen, Ohrwürmern, Stechmücken -, die von überallher auf mich eindrangen. So stellte ich mir den »friedlichen Tod« vor: mitten in der prall von Leben und Schönheit erfüllten Natur den Insekten preisgegeben zu sein, die mir das Blut aussaugten und das Fleisch zerstachen, bis mich die Furcht vor der giftigen Kreuzotter auf die Felsspitze trieb, wo Nebelschwaden sich wie Gaze um meine schmerzenden Glieder wanden. Dort fühlte ich, ein vom Schicksal begünstigter Toter, mich zu Hause. Dabei hatte ich weder je einen Schusswechsel miterlebt noch Blutvergießen - bis auf die Insekten, deren Stiche meine Haut röteten und ab und zu einen dunklen Blutstropfen hervorriefen. Wenn ich Jäger auf Vögel schießen sah, wandte ich das Gesicht ab. Der Gedanke, irgendeinem Wesen das Leben zu nehmen, schien mir unbegreiflich, selbst wenn es darum ginge, die eigenen Kinder zu ernähren. In meiner Vorstellung waren gewaltsam Gestorbene und getötete Vögel eins.
So wie es in der Natur viele Gottheiten gibt und es schade ist, dass die Menschen nur einen einzigen Gott haben wollen, der ihre Fantasie einschränkt und sie zwingt, ihre Rettung nur bei ihm allein zu suchen, gibt es in den Städten, aber vor allem in kleinen Gemeinschaften eine große Zahl von Geistern. Möglicherweise waren recht viele von ihnen nach einem gewaltsamen Tod zu Spukgestalten geworden.
Als Kind hörte ich in Kastania, die Geister seien Tote, die aus Liebe, Pflichtgefühl, eines unerfüllten Versprechens wegen oder auch aus Zorn auf einen noch lebenden Mitmenschen auf der Erde bleiben müssten. Ich fürchtete mich vor den Spukgestalten, die ich mit den Taten der Erwachsenen, mit Hass und Leidenschaft in Zusammenhang brachte. Doch ich wusste, dass die Geister niemals Zuflucht im Wald suchten und nur ungern mit Feen und Trollen verkehrten. Lieber verstörten sie ihre Angehörigen, die in Häusern und Siedlungen, auf den Straßen der Stadt und den Friedhöfen zurückgeblieben waren. Aber das hatte ich mir vielleicht - wer weiß, warum - selbst ausgedacht. Ich liebte die Bergwälder um unsere Dörfer und die Gipfel mit ihren niedrig hängenden Wolken, die man fast mit der Hand berühren konnte. Von da an wurden die Bäume meine besten Freunde und die Stille der Tier- und Pflanzenwelt zu meiner zweiten Haut. Mit achtzehn beschloss ich, Förster zu werden. 1928 verließ ich mein Dorf, um an der Lehranstalt für Forstwirtschaft von Vytina zu studieren. Die Peloponnes war ganz anders als Evrytania, unsere eigentliche Heimat. Dorthin sollte ich nie mehr zurückkehren, sondern nur noch in Gedanken durch die heimischen Berge streifen.
Letzten Endes wird der Mensch - ganz gleich, wie sein Leben verläuft - stets zu dem, was er von Anfang an werden wollte. Mein deutscher Lehrer an der Fachschule, ein bedeutender Experte der Forstwirtschaft, erzählte uns, alles, was man in seiner Jugend ersehne, finde man schließlich im hohen Alter reichlich vor. Wie das zustande komme, könne er uns allerdings nicht erklären. Das Kind, sagte er, wachse mit elterlicher Fürsorge auf, so wie der Baum mit den Geheimnissen der Erde. Alle Eltern hätten tiefe und dunkle Geheimnisse, die sich später - ob man wollte oder nicht - in Sehnsüchte der Kinder verwandelten. In gute oder böse Sehnsüchte, das könne man nicht vorhersehen. Ihnen jage das Kind, ohne es darauf anzulegen, sein ganzes Leben lang nach, bis es schließlich doch zu der Person werde, die es werden sollte. Für Menschen und Bäume gilt dasselbe Gesetz. Als mich Marianthi fragte, warum ich den Wald so sehr liebte, antwortete ich, er komme mir wie eine menschliche Stadt vor, voller Leben und Saft, Licht und Schatten, ein üppiger Kosmos, bewohnt von Stimmen und Schweigen, starken und schwachen Wesen - ganz wie die Menschen, nur ohne deren Bosheit. Stundenlang saß sie auf der Lichtung und wartete, bis ich das Baumharz gesammelt hatte. Dabei konzentrierte sie sich, wie sie mir erzählte, stets auf einen einzigen Gedanken, während sie die hohen, feierlich dastehenden Stämme und deren dichte, dunkle Laubkronen betrachtete: Was war wohl los mit einem toten Baum, bevor er gefällt wurde? Und was wird aus einem grünenden, blühenden Baum, wenn er vertrocknet?
Niemand betritt den Wald, als sei es das erste Mal. Alle Menschen spüren, dass in früheren Zeiten, bevor ihre Spezies einen tierhaften Leib mit Beinen zur Fortbewegung entwickelte, ihr ursprünglich pflanzlicher Körper dank unsichtbarer Wurzeln aus der Erde wuchs und sich in unbekümmerter Reglosigkeit vom Grundwasser nährte. Wasser ist das gemeinsame Schicksal für alles, was sich bewegt, und für alles, was unbeweglich bleibt, für Menschen und für Bäume. Die Herkunft bestimmt das Schicksal. Fehlt dir, was dir Leben spendete, stirbst du. Bekommst du es im Übermaß, bleibt es dir im Hals stecken. Wird unser Planet von einer großen Dürre heimgesucht, geht das Pflanzen- und Tierreich zugrunde. Dann werden nur die aus anderen Materialien errichteten Menschenwerke - Wohnungen, Brücken, Straßen, Gebäude und Gotteshäuser - erhalten bleiben, als einsame, nutzlose Denkmäler einer Kultur des Wassers. Und wenn die Meere überfließen und das Eis der Antarktis schmilzt, wird alles unter den eiskalten Wassermassen der Ozeane begraben.
Maria Stefanopoulou:
Athos der Förster
Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger
Elfenbein-Verlag
248 Seiten, geb., 20,00 €
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