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»Etwas erzählen, was nur ich weiß«
Klagerufe, Grobheiten und Rührungen: Der Bachmannwettbewerb online
Am Wörthersee werden nicht nur Texte gelesen, der Bachmannwettbewerb selbst schreibt Geschichten, und für Helga Schubert ist nun wohl eine der schönsten hinzugekommen. Die Achtzigjährige gewann den Hauptpreis für ihren Text »Vom Aufstehen«.
1980 war sie schon einmal zum Wettlesen eingeladen, durfte aber nicht aus der DDR ausreisen. Erst 1987 ließ man sie nach Klagenfurt, nun als Mitglied der Jury. Der heutige Vorsitzende Hubert Winkels erinnerte sich: »Ich weiß, dass wir Zuhörer skeptisch waren. Sprechen die für ihren Staat? Ist das was Stasihaftes dabei? Im Nachhinein ungute Abgrenzungen.«
Ohne Corona wäre Schubert die späte Genugtuung wohl nicht vergönnt gewesen, wie sie - mit Freudentränen ringend - in ihrer Dankesrede erklärte. Die Autorin lebt in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern mit ihrem Mann zusammen. Er ist krank, sie pflegt ihn. Wenn der Wettbewerb nicht via Video-Chats stattgefunden hätte, da weder Autoren noch Juroren nach Klagenfurt reisten, wäre ihr eine Teilnahme wohl gar nicht möglich gewesen.
In ihrem autobiografischem Text »Vom Aufstehen« arbeitet sich die Erzählerin am Verhältnis zu ihrer Mutter ab. Eine harte Frau, die es sich als »Heldentaten« verbucht, dass sie ihre Tochter dreimal nicht sterben ließ: als sie sie nicht abtrieb, als sie sie im Flüchtlingstreck am Kriegsende nicht zurückließ und später nicht vergiftete, als die Rote Armee anrückte. Die Tochter verzeiht ihr am Totenbett. »Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut.«
Die Jury zeigte sich angerührt. Kritikerin Insa Wilke sagte in ihrer Laudatio, der Stoff hätte eine Geschichte der Katastrophe sein können, aber Schubert zeige, wie man Frieden mache. Die Auszeichnung geht in Ordnung, auch wenn der Text die politische Höhe nicht erreicht, die einzelne Juroren ihm in der Diskussion beimaßen. Denn das Verzeihen ist eine Antwort auf bereits geschlagene Schlachten und »Es ist alles gut« sicher nicht als Entgegnung auf die politische Gegenwart zu verstehen. »Vom Aufstehen« wird vielmehr getragen von einer scheuen Verbindlichkeit im Ton, vom Wunsch, die Einsamkeit über alle Widerstände hinweg zu überwinden.
Im Text selbst ist dessen Poetologie zu finden: »Ist es nicht anmaßend, sich so ernst zu nehmen? Woher kommt die Überzeugung, gerade diese Begebenheit könnte auch nur einen einzigen Leser, eine einzige Leserin aufhorchen lassen? Woher kommt die Kraft, um die Aufmerksamkeit dieser anderen Menschen zu bitten, ihre Zeit und ihr Interesse zu beanspruchen?« Die Antwort folgt ein paar Zeilen später: »Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand. Für die wenigen Minuten, in denen er die Geschichte liest, in der unendlichen, eisigen Welt.« Wem das zu kitschig klingt, möge überprüfen, ob es nicht schöner wäre, es tröstlich zu finden.
Der zweite Preis, vom Deutschlandfunk gestiftet, geht an Lisa Krusche. Die 1990 geborene Autorin gewinnt mit »Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere« - die Liebesgeschichte zweier Frauen in einer dystopischen Welt. Die Erzählerin lebt allein in einem heruntergekommenen Hochhaus, bewaffnet sich gegen unklare Gefahren, im Himmel fliegen Drohnen umher. Einziger Ausweg aus der bedrückenden Gegenwart sind Videospiele, in denen sie auch auf den leblosen Avatar ihrer Freundin trifft. Diese hat die Erzählerin verlassen und sich »Kompostisten« angeschlossen, offenbar eine Bewegung, die ihr Heil im experimentellen Erforschen von Verbindungen unterschiedlicher Spezies sucht.
Gerade dieser Einfall überzeugte mehrere Juroren. Insa Wilke lobte, wie hier die Theorien der US-amerikanischen Feministin Donna Haraway eingebunden würden. Haraway gehört seit ein paar Jahren zur Pflichtlektüre politisch wie technisch optimistischer Intellektueller. In ihren Texten versucht sie das Denken auf kommende Verbindungen von Maschinen, Menschen und anderen Lebewesen vorzubereiten.
Man mag Haraways Theorien erhellend oder krude finden, dass der Wettbewerbstext vor allem dafür gelobt wurde, dass Krusche sie heranziehe, wird weder der Autorin noch einem Wettbewerb gerecht, in dem es doch zu allererst um literarische Verfahren gehen sollte. Es schien in der Diskussion mitunter, als wolle die Jury vor allem ihre Aufgeschlossenheit hippen Theoremen und Videospielen gegenüber unter Beweis stellen.
Der literarisch avancierteste Text fiel in diesem Jahr leider durchs Raster. Levin Westermann hätte einen Preis verdient. »und dann« lautet der programmatische Titel seines Textes; es ist eine einsame Litanei, eine Aufzählung dessen, was der Erzähler nicht erträgt: ertränkte Katzen, einen eingesperrten Pfau, einen brennenden Regenwald, einen namenlosen Präsidenten in der Zeitung, der unschwer als Donald Trump zu erkennen ist: »seit 2015 stiehlt er die zeit / er schuldet mir: zeit«.
Die Videos und Texte sind weiterhin auf der Website nachzulesen und nachzuhören. Westermann sei ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Man darf seinen Text als Kommentar zur politischen Diskussion verstehen. Es ist ein einziger Klageruf, der Erzähler zählt auf, was er sieht - und was er sieht, ist nicht gut. Das ist hochpolitisch in einer Zeit, in der politische Äußerungen zur Profilbildung dazugehören. Man verbringe nur fünf Minuten auf Twitter, um zu erfahren, wie sehr in unserer Gegenwart das Schlechte noch nutzbar gemacht wird. Wer für das Richtige ist, darf auf Jubel hoffen, wer das Böse lächerlich macht, bekommt Likes.
Westermanns Ich will nicht profitieren von der Schlechtigkeit der Verhältnisse, zumindest das nicht. Damit ist - mit Adorno - noch kein richtiges Schreiben im schlechten erreicht. Es ist nicht richtig, weil es ja keineswegs einen Ausweg weist. Im Gegenteil: Westermanns Ich steigert nur die eigene Verzweiflung, indem er sich genau diesem Ausweg verweigert: aus dem Schlimmen der Welt noch etwas für sich herauszuholen. Hier ist die Verzweiflung komplett. Wir haben es bei diesem Text mit politischer Kunst zu tun, die nicht meint oder fordert, sondern auffordert, überhaupt erst mal die Welt anzusehen, wie sie ist: nicht gut.
Etwas bemüht nimmt sich dagegen Egon Christian Leitners Text »Immer im Krieg« aus, der mitunter allzu grelle Schlaglichter auf die Beziehung zwischen Sozialstaat und Menschen wirft. Die da unten kämpfen um ein besseres Dasein, versuchen einander zu helfen, hungern sich zu Tode, machen es nur noch schlimmer. Engagiert ist diese Gesellschaftskritik ganz sicher, stilistisch aber eher schwach begütert. Leitners Text wurde mit dem Kelag-Preis prämiert, gestiftet von den Kärntner Elektrizitätsbetrieben.
Der 3sat-Preis ging an Laura Freudenthaler, der Juror Klaus Kastenberger eine große Zukunft voraussagte. Auch hier haben wir eine Dystopie. Ein Mann und eine Frau schlagen sich auf dem Land durch, eine Mäuseplage frisst die Ernte auf, Feuer kommen näher, ganz Europa versinkt in Waldbränden. Die Stimmung ist düster, bedrohlich. Kastenberger lobte Freudenthalers Sätze. »Ich habe keinen gefunden, der mich gestört hätte.« Nun, wenn das schon genügt. Die Jury war auch schon mal besser im Loben.
Zu zweifelhaftem Ruhm hat es einer der beiden Debütanten unter den Kritikern gebracht. Während Brigitte Schwens-Harrant als eine von zwei Neuen verhuscht ab und zu ein »Gut gearbeitet« einwarf und in erster Linie im Video-Chat in ihrem schwach beleuchteten Keller nicht aufzufallen versuchte, wollte Philipp Tingler es wissen. Der Zürcher hatte selbst einmal erfolglos beim Bachmannpreis gelesen und ließ bis zuletzt keine Gelegenheit aus, kokett darauf hinzuweisen, wie sehr er diesen Wettbewerb verachte. Mit seinem Auftritt hoffte er wohl, den Status eines Bad Boys zu verteidigen, weshalb er seine Kollegen ständig unterbrach, Texte so geschmäcklerisch wie grob als nicht satisfaktionsfähig oder schlicht »langweilig« erklärte - und am dritten Lesungstag zu einem Tabubruch ansetzte: Er fragte die Autorin (und Publikumspreisträgerin) Lydia Haider, was sie mit ihrem Text bezwecke. Ein Sakrileg!
Tingler verstieß derart gegen die Spielregeln des Wettbewerbs, dass Hubert Winkels ärgerlich eingriff, nicht zum letzten Mal schrien die Juroren in ihre Mikros. Tingler zeigte sich als Nervensäge und eitler Querulant; seine Teilnahme hat die Diskussion aber durchaus an einigen Stellen befruchtet, brachte seine Sturheit die Juroren doch immer wieder dazu, dem Neuen (und damit dem Publikum) Grundsätze ihres Literaturverständnisses erklären zu müssen. Und überhaupt ist es doch wunderbar, die Menschen beim Streit über so etwas Unwichtiges, so Wertvolles wie Literatur zu beobachten. Trotz und wegen Tingler ist sicher: Der »Bewerb« hat Corona nicht nur überlebt, er war so lebendig wie lange nicht.
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