Zuerst die Todesanzeigen lesen

Wassermühlen retten und Feuerwehrfahrzeuge steuern: Wer wo was tut, erfährt man aus dem »Elbe-Geest-Wochenblatt«

  • Fritz Tietz
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer in den 70er und 80er Jahren regelmäßig die Lokalteile der beiden Bielefelder Tageszeitungen las, dem könnte sich der Name Herward Wulf auf ewig ins Gedächtnis gefräst haben - Branddirektor Herward Wulf natürlich, so viel Zeit muss sein. Niemand anders nämlich als dieser Titelträger war damals häufiger abgebildet in der »Neuen Westfälischen« und dem »Westfalen-Blatt«. Stets akkurat angetan mit Uniform und Mütze und fast immer im Kreis einiger anderer, zumeist freiwilliger Feuerwehrleute, denen er - so will es die meinem Gedächtnis unauslöschlich eingebrannte Erinnerung - praktisch täglich seine Aufwartung machte: Hier eine Beförderung oder Verabschiedung in den Ruhestand, dort ein Jubiläum oder runder Geburtstag, da eine Leistungsschau oder ein neuer Ausrüstungsgegenstand, das waren so die Anlässe für die ständigen Repräsentationen des städtischen Feuerwehramtsleiters - und die Bielefelder Zeitungen berichteten.

Allein im Online-Archiv der »Neuen Westfälischen« kommt man für den Zeitraum von 1973 bis 1988 auf fast 600 Treffer, und es sind überwiegend Bildunterschriften, in denen der Name Herward Wulf auftaucht. Sogar noch als Rentner stand der 1986 Pensionierte vor den Kameras der Lokalreporter. »Trotz Ruhestand durfte Herward Wulf sich gestern noch einmal an das Steuer eines Feuerwehrfahrzeuges setzen«, heißt es etwa am 29. Januar 1987 unter einem Foto, das Herward Wulf am Steuer eines Feuerwehrfahrzeugs zeigt.

Zu dieser Zeit etwa habe ich meine Geburtsstadt Bielefeld verlassen. Ob in den Lokalzeitungen Hamburgs, wo ich die nächsten Jahre verbrachte, ein Herward Wulf ähnliches Phänomen zu beobachten war? Keine Ahnung. Zu gering erschien mir als Zugezogenem der Abo- und Leseanreiz, der ja bei Lokalblättern in erster Linie auf den Todesanzeigen beruht. Deren Unterhaltungswert erfüllt sich aber bekanntlich nur, wenn es gelegentlich alte Bekannte sind, deren Ableben sie vermelden. Heimat ist da, wo man die Todesanzeigen liest, heißt es ja deshalb auch.

Meine eigene Todesanzeige könnte einmal im »Elbe-Geest-Wochenblatt« stehen, was der Name der Lokalzeitung meines gegenwärtigen und - darauf deutet zumindest einiges hin - vermutlich auch letzten Wohnortes hienieden ist. Ein zweimal wöchentlich vertriebenes Anzeigenblatt, das die Werbebotschaften der darin inserierenden Unternehmen mittels einer eher gefälligen Lokalberichterstattung an seine Leserschaft zu bringen versucht.

Eine noch engere Leserbindung versuchen die Macher des »Elbe-Geest-Wochenblatts« offenbar über die Auswahl der veröffentlichten Fotos zu erreichen. Diese scheint größtenteils von dem Bemühen bestimmt zu sein, möglichst jedem Insassen des Verbreitungsgebiets mindestens einmal im Leben einen Auftritt in der Zeitung zu verschaffen, so der mich stets stark verstörende Eindruck angesichts der unfassbar vielen, frontal abgelichteten Dutzendgesichter auf jeder Zeitungsseite. Manche schaffen es sogar mehrfach ins »Elbe-Geest-Wochenblatt«. Ich zum Beispiel schon zweimal - aus eher peinlichen Anlässen allerdings, die ich hier lieber nicht erwähne.

Mit Abstand am häufigsten abgebildet im »Wochenblatt« ist aber Emily W., so jedenfalls meine Wahrnehmung: eine überaus engagierte Bürgerin, die sich in den letzten Jahren große Verdienste erworben hat als Vorsitzende einer Bürgerinitiative zum Erhalt einer historischen Wassermühle und in dieser Funktion kaum eine Gelegenheit auslässt, die Lokalpresse mit ihrem Konterfei zu bereichern: mal in voller Pracht allein vor dem Mühlwerk posierend; mal im Verbund mit dem Landrat, einen symbolischen Scheck haltend; zu dritt auch, ein von ihr mitkonzipiertes Kochbuch präsentierend. Und immer wieder im Kreis ihrer Mitstreiter, der Mühlenretter - dabei einmal sogar als Biene verkleidet. Und immerhin so häufig und regelmäßig, dass, als mal länger kein Foto von ihr erschien, ich mir schon Sorgen machte über den Verbleib der »heimlichen Bürgermeisterin«, wie ich sie längst insgeheim nenne, weil sie die offizielle Bürgermeisterin weit abgehängt hat im inoffiziellen Lokalteilfotohäufigkeitswettbewerb. Selbst im derzeitigen Covid-19-Ausnahmezustand schafft sie es mit einem Foto in die Zeitung. Darauf sieht man Emily W. mit Küchenschürze und pfundsoptimistischer Miene eines der vier Mittagessen zubereiten, deren Rezepte »die Vorsitzende des Vereins Wassermühle« all denen empfiehlt, die wegen seuchenbedingter Schließung von Betriebskantine und Schulmensa »plötzlich vor der Herausforderung stehen«, selbst kochen zu müssen.

Bei einem ihrer jüngsten Auftritte sah man Emily W. den Standort eines Defibrillators anzeigen, der fortan allen Mühlenbesuchern im Notfall einer Herzattacke erste Hilfe bieten soll - und da meinte ich doch tatsächlich den ehemaligen Bielefelder Branddirektor neben ihr zu erblicken, der es sich als professioneller Lebensretter nicht hatte nehmen lassen, der Stationierung des so lebenswichtigen Geräts durch seine amtliche Wucht noch mehr Wichtigkeit zu verleihen. Natürlich nur eine Sinnestäuschung, schließlich ist Herward Wulf bereits 1998 verstorben, wie mir neulich seine, im Bielefelder Zeitungsarchiv gefundene Todesanzeige verriet.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.