- Kultur
- Kunst und Corona
Lädierte Fluchtfahrzeuge
Die Ausstellung »Alles Okay« in der St.-Elisabeth-Kirche in Berlin kreiert einen kritischen Reflexionsraum zu Corona
Ein Mann steht mit einem Schild ganz allein auf dem Bürgersteig. So weit der Blick reicht, ist kein anderer Passant, kein Auto, niemand zu sehen. Auf dem Schild steht »Gross Demo«. Das ist ein Bild, das in der Schau »Alles okay. Eine Ausstellung zur Coronakrise und ihren Folgen« momentan zu sehen ist. Die Lockerungen aus dem Lockdown haben dieses Bild mittlerweile historisch gemacht. Demonstrieren ist wieder möglich, und nicht immer werden dabei die Abstände von 1,50 Meter zu Nebenmann und Nebenfrau eingehalten. Aber es stellt womöglich sogar einen zusätzlichen Wert der einzelnen Objekte dieser Gruppenschau dar, wenn einzelne Werke überholt wirken. Denn sie aktivieren die Erinnerung an Ängste und Sorgen, Wutausbrüche und Staunen über Momente, die längst vergangen wirken. Andere Arbeiten könnten hingegen durch die politischen und sozialen Entwicklungen an Bedeutung und Aktualität gewinnen.
In der St. Elisabeth Kirche in Berlin-Mitte sind insgesamt 54 akribisch durchnummerierte Arbeiten der Gruppe »Die Bekenner« zu sehen. Sie besteht aus den Künstlern Werner Bauer, Peter Kees und Thomas Neumaier. Bei den ausgestellten Werken handelt es sich auch um eine Notproduktion. »Wir hatten Ausstellungen und Aktionen im öffentlichen Raum geplant. Aber all das ist wegen Corona abgesagt worden oder im ursprünglichen Umfang nicht möglich. Also haben wir nach Formen gesucht, die weiter möglich sind«, erklärt Kees »nd«.
Möglich waren zum Beispiel inszenierte Fotos wie die oben erwähnte Arbeit »Gross Demo« von Werner Bauer. Er schuf auch einen grandiosen Bildkommentar zum Thema Home Office: Ein Mann sitzt in einem düsteren bunkerähnlichen Verschlag und hält auf den Knien einen Laptop, auf dessen Tastatur sich seine Finger bewegen, während sein Gesicht zu durch einen überdimensionierten Mund-Nasen-Schutz bedeckt ist.
Thomas Neumaier operiert hingegen vornehmlich mit Objekten und Assemblagen. An einen Globus hat er einen Küchenmixer angeschlossen. Er nennt die Arbeit »Weltbeschleuniger« - ein drastischer Hinweis auf die Entschleunigung, die der Lockdown mit sich brachte. Unklar bleibt, ob Neumaier diese Entschleunigung begrüßt, weil sie auch einen - zumindest temporären - Ausstieg aus der Konsum- und Karrierespirale bedeutet (dann wäre sein »Weltbeschleuniger« ein gefährliches Instrument), oder ob er über die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen des Stillstands so besorgt ist, dass er sein Tempo-Gerät zur Anwendung empfiehlt. Diese Unschärfe ist eine Qualität der Arbeit.
Das gilt auch für das Werk »Triage«. Neumaier. hat Zettel ausgelegt, auf denen Altersangaben aufgedruckt sind: Sie beginnen bei 70 Jahren. Jeder könnte sich selbst vormerken für die künftige Aussonderung bei Kapazitätsengpässen im Gesundheitswesen. Ist das eine Horrorvorstellung oder staatsbürgerlich verantwortungsbewusstes Handeln? Die Bewertung bleibt offen.
Peter Kees beschäftigt sich in vielen seiner Arbeiten mit den Bewegungseinschränkungen. Er hat Pässe verschiedener Länder ausgestellt, die als »nicht mehr gültig« markiert sind. Ersatzweise hat er Corona-Pässe entwickelt, die Mobilität auch im Einschränkungsregime garantieren sollen. Bemerkenswert ist sein »Stempel für eine neue Weltordnung«: Ein Geldschein wird da als »nicht mehr gültig« gestempelt; ab sofort seien nur noch das elektronische Geld der Karten und Apps einsetzbar. Kees antizipiert hier die fortschreitende Digitalisierung, die umfassende Nachverfolgung von Aktionen und Interaktionen. Und er betont die Zugangsschwellen und Ausschlussmechanismen, die vom technikaffinen Mittelstand gern ignoriert werden.
In den gewaltigen Raum der St. Elisabeth Kirche hat Kees einige zauberhaft lädierte Fluchtfahrzeuge gebracht. Einem zu einem Klumpen gepressten VW-Golf legt er schöne hölzerne Ruder bei. Ein Moped, das aussieht, als hätte es die letzten 40 Jahre im Gebüsch gelegen, ist mit einem Fallschirm versehen. Ein Flugzeugrotor ist mit einer Seilwinde zu einem neuen Luftmobil verbunden. Eine Flucht mit diesen Gefährten erscheint aussichtslos - so wie es auch kein Entkommen aus der Welt gibt, in der wir uns befinden. Man kann nur versuchen, die Welt jetzt besser zu machen, die Zustände des mythischen Arkadiens, ein Leben ohne Last und Zwang, an Ort und Stelle einzuführen.
Es ist die Stärke der Ausstellung, dass sie den Blick zugleich weitet und fokussiert. Man gewinnt Abstand zu den aktuellen Verhältnissen, kann zumindest Geist und Gemüt befreien, um aus der Distanz einzelne Aspekte schärfer in den Blick nehmen. Es ist schade, dass die Ausstellung nur für eine kurze Zeit zu sehen ist. Sie hätte das Zeug zu einem Dauerreflektionsraum in unseren Zeiten.
Zur besseren Einhaltung der aktuellen Abstandsregeln werden die Besucher gebeten, sich online zu registrieren. Kees versichert aber, dass spontane Besuche möglich sind. Man muss sich dann ins Anwesenheitsbuch eintragen und gegebenenfalls warten, sollte die Kirche von zu vielen Menschen besucht sein.
»Alles Okay. Eine Ausstellung zur Coronakrise und ihren Folgen«, bis 5.7., St.-Elisabeth-Kirche, Invalidenstraße 4 a, Berlin.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.