Die Kolonne der jungen Dichter

Die Literaturzeitschrift »Signum« erschließt ein vergessenes Aufbegehren

  • Jens Grandt
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie provinziell Provinz ist und welcher Art, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Mitunter gefällt sich eine Residenz (alter und neuer Art) in muffligem Mittelmaß. Meine lieben aufgeweckten Dresdner wissen ein Lied darauf zu singen. »Welch widerwärtiges Provinznest«, notierte der Schriftsteller Martin Raschke 1929 in sein Tagebuch. Und sein nachgeborener Zunftkollege Jens Wonneberger, Sachse wie jener, geht dieser Stimmung sowie ihren ausblendenden Folgen im Sonderheft der Zeitschrift »Signum. Blätter für Literatur und Kritik« nach.

»Signum« erscheint seit 1999 zweimal im Jahr, dazu Sonderhefte. Herausgeber ist der Schriftsteller Norbert Weiß. Gefördert vom Amt für Kultur und Denkmalschutz der Stadt Dresden hat sich das Periodikum zu einem überregionalen Literaturmagazin entwickelt. Es verfällt nicht den Experimentiergelüsten mancher Autoren, sondern hält sich an »klassische« wie moderne Maßstäbe dessen, was Literatur Bestand sichert. Die Wertschätzung ist natürlich zuallererst den Autoren zu danken, namhaften wie Newcomern, sowie einem qualifizierten Rezensionsteil.

Nun belebt »Signum« wieder ein Kapitel vergessener oder an den Rand gedrängter Literatur, das seinerzeit schockierte und ermutigte. Hatte das Sommerheft 2019 das umfangreiche Werk des Arbeiterdichters und Schriftstellers Walter Bauer (»Stimme aus dem Leunawerk«, von Wieland Herzfelde im Malik-Verlag herausgebracht) in den Mittelpunkt gestellt, blicken wir diesmal in die Literaturzeitschrift »Die Kolonne«, deren Initiator der damals 24-jährige Martin Raschke war und die von 1929 bis 1932 in 19 Ausgaben erschien. Unbestritten »ehrgeizige Qualitätsansprüche« bescheinigt ihr der Lyriker Wulf Kirsten. Günter Eich und Peter Huchel haben hier ihre ersten Gedichte veröffentlicht. Zu den Mitarbeitern in der Weimarer Zeit zählten Theodor Kramer, Elisabeth Langgässer, Hermann Kasack.

Für diesen Schatz den Boden geöffnet - im wahren Sinne des Wortes, denn es war ein Dachboden -, hat die Leiterin des Buchmuseums der Sächsischen Landesbibliothek, Katrin Nitzschke. 1987, nach einem Tipp von Kirsten, fand sie im Haus von Raschkes Tochter den Nachlass des gebürtigen Dresdners, der 1941 zur Wehrmacht eingezogen worden war und zwei Jahre darauf an der Ostfront gefallen ist.

Es war ein attraktiver, weitsinnig aufgeschlossener junger Mann, »ein heiterer, begabter Dichter, eine Persönlichkeit, die menschliche Wärme ausstrahlt«, urteilte der Geschäftsführer des Verlagshauses Wolfgang Jess über den eifrigen Zeitungsmacher. Jess, der auch die von Raschke betreute »Junge Reihe« und die »Neue Lyrische Anthologie« herausgab, widmet dem Schriftsteller Jens Wonneberger einen beachtlichen Aufsatz. Norbert Weiß wiederum legt Raschkes Weg durch das Gestrüpp der unerquicklichen Zeitumstände frei.

Sprungbrett für den talentierten Publizisten war eine radikal-bissige, ja revolutionäre Jugendzeitschrift, die sich »MOP« nannte und gegen alle Zumutungen der »satten Besitzbürger«, Spießer und der »gottgewollten Ordnung« opponierte. Er »emigrierte« (wie Volker Braun ein halbes Jahrhundert später den Auszug der sogenannten Sächsischen Dichterschule benannt hat) von Dresden nach Leipzig und schrieb dort unter anderem »Fieber der Zeit. Roman einer Jugend« sowie etliche Manifeste und Gedichte, die Klaus Mann begeisterten. Als es Raschke gelang, den Verleger Jess für sein Zeitschriftenprojekt zu interessieren, zog er wieder zurück nach Dresden.

Nachdem »Die Kolonne« aus wirtschaftlichen Gründen und wegen des politischen Drucks ihr Erscheinen einstellen musste, verfasste Raschke seinen zweiten Roman »Die Stadt Georg Winters«, Hörspiele und zahlreiche Erzählungen. Wirkliche Meisterschaft erreichte er in den Essays, seine Gedichte wertete er selbst eher kritisch. 1933 wurde gegen ihn ein Sendeverbot für alle Rundfunkanstalten erlassen.

Höchst erbaulich sind Günter Eichs »Bemerkungen über Lyrik« sowie Raschkes feinfühlige Besprechung der Verse Peter Huchels. Julia Meyer widmet sich in einem ausführlichen Essay den Frauen der »Kolonne«. Erinnert wird an das Werk von Artur Kuhnert, der bei Reclam mehrere Romane veröffentlichte, beispielsweise »Kriegsfront der Frauen«. Sein Hauptwerk »Die große Mutter vom Main« wurde seinerzeit sogar ins Tschechische übersetzt. Mit Günter Eich - zeitweise wohnten sie zusammen - schrieb Kuhnert etliche Hörspiele. Später verfasste er für ein Dutzend Filme Drehbücher, nach 1945 sogar für die DEFA (»Carola Lamberti - Eine vom Zirkus«, »Gejagt bis zum Morgen«).

Kurzum: Es gab sie durchaus, die Boheme in Dresden. Nur wurde deren Erbe nicht gepflegt wie das in Berlin oder München. Den Beamten am sächsischen Königshof war sie unheimlich, und unzufriedene Bürger gingen lieber ins Ballhaus »Watzke«, statt ins Café »Zuntz« auf der Prager Straße, wo neben Hans und Lea Grundig auch die Tänzerin Jutta Lucchesi verkehrte, die 1930 den umtriebigen Poeten und Publizisten Martin Raschke heiratete und mit ihm zwei Töchter mit den Namen Agnes und Sophia bekam.

»Signum. Blätter für Literatur und Kritik«. Sonderheft: »Die Kolonne«, 122 S., br., 8,20 €; zu bestellen über den Buchhandel oder www.zeitschrift-signum.de

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