»Das stimmt hinten und vorne nicht«

Der mutmaßliche Lübcke-Mörder verstrickt sich vor Gericht in Widersprüche

  • Johanna Treblin, Frankfurt am Main
  • Lesedauer: 5 Min.

Das zweite Geständnis ist voller Widersprüche. In einem etwa sieben Minuten langen Text - mit einer kurzen Unterbrechung - liest Stephan Ernst eine Erklärung vor, in der er schildert, wie er und Markus H. den Kasseler Regierungspräsidenten zu Hause aufgesucht hätten und H. ihn - versehentlich - erschossen habe. Insgesamt ist das zweite Vernehmungsvideo, das am Dienstag vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main gezeigt wird, rund vier Stunden lang. Ernst soll darin im Anschluss an die Erklärung in eigenen Worten schildern, was vorgefallen ist und was ihn zu der Tat veranlasst hat.

Zwei Wochen zuvor hatte der Prozess um den Mord an Lübcke sowie dem versuchten Mord an Ahmad I. begonnen. Ernst ist des Mordes an Lübcke angeklagt, H. der Beihilfe zum Mord. Am zweiten Verhandlungstag war das erste Geständnis von Ernst gezeigt worden, das er kurz nach der Tat abgegeben hatte. Er behauptet darin, alleine am Tatort gewesen zu sein. Kurz darauf wechselte er den Anwalt und zog sein Geständnis zurück. Das zweite macht er ein halbes Jahr später im Beisein seines neuen Anwalts, Pegida-Mitgründer Frank Hannig. Darin belastet er H. schwer.

Als es am Dienstag vor Gericht gezeigt wird, fällt auf, wie gefasst Ernst darin wirkt. Als er berichtet, wie sich versehentlich der Schuss aus der Waffe in der Hand von H. gelöst habe, sagt der vernehmende Richter: »Das klingt so teilnahmslos.« Ernst daraufhin: »Das war schon aufregend. Wir sind in Panik zum Auto.« Und auf Nachfrage, was er zu H. gesagt habe: »Ich habe gesagt: Verdammte scheiße, was soll das, wie konnte das passieren«. Es sind Phrasen, die nicht besonders glaubwürdig klingen. Hinzu fügt er dann noch: »Das gibt Riesenärger.« Ein Mann ist tot, und einer der Täter macht sich Sorgen über den »Riesenärger«, den das nach sich zieht.

Der vernehmende Richter und der teilnehmende Staatsanwalt, der auch die Anklage im Gericht führt, machen in der Vernehmung auf mehrere Widersprüche aufmerksam. Sie fragen, warum Ernst und H. nicht daran gedacht hätten, sich für den »Denkzettel« für Lübcke zu vermummen, während sie sehr wohl daran gedacht hatten, das Kennzeichen des Autos auszutauschen. Ob sie nicht damit rechneten, dass Lübcke sie anzeigen würde? »Das habe ich mir nicht vorstellen können«, sagt Ernst. Warum er die Tatwaffe nicht entsorgt habe, sondern behalten und sogar ordentlich geputzt? Ob weitere Straftaten geplant gewesen seien? »Die war ja auch teuer«, sagt er. Warum er sein Zweitauto vor seiner Frau und den Schwiegereltern versteckt habe? Nach einer Unterbrechung behauptet er etwas von einer Affäre, seine Frau habe nicht merken sollen, »dass das Auto weg ist«. »Aber Sie sind dann ja nicht da. Macht das Sinn?« Ernst bleibt Erklärungen schuldig. »Irgendwas stimmt da nicht. Vorne und hinten«, resümiert der vernehmende Richter.

Offen bleibt, ob der Mord im Zusammenhang mit einem größeren Neonazinetzwerk steht. Als H. der Haftbefehl ausgehändigt wird, fragt er sinngemäß - so erzählt es der vernehmende Richter im Video -: Nur wegen Beihilfe zu Mord? Nicht wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung? Der vernehmende Richter fragt auch Ernst: »War da noch was anderes geplant? Waren da noch andere?« Ernst antwortet: »Ich kann mir das nicht erklären«, und damit war es das auch. Es folgten keine weiteren Nachfragen.

Ernst und H. kannten sich aus der Kameradschaftsszene. Seit 2009 wurden beide als »abgekühlte« Neonazis beim Verfassungsschutz geführt - obwohl sie auch danach noch gemeinsam an rechten Aufmärschen teilnahmen, wie antifaschistische Recherchen aufdeckten. Gerade erst am Montag kam heraus, dass beide am 1. Mai 2018 auf einer AfD-Kundgebung in Eisenach waren, an der auch Björn Höcke teilnahm.

Ernst selbst sagte im ersten Video, er habe sich 2010/2011 von der Kameradschaftsszene gelöst. »Überfremdung« und »Ausländerkriminalität« seien aber Themen für ihn geblieben. Mehr damit beschäftigt habe er sich wieder ab 2013/2014, als H. sein Arbeitskollege wurde. 2015 besuchten sie dann gemeinsam die Bürgerversammlung in Lohfelden, auf der Lübcke sprach. Seitdem hatte Ernst »einen Hass« auf den Regierungspräsidenten. Im ersten Vernehmungsvideo behauptete er, mit H. darüber nur am Rande gesprochen zu haben und sich mit ihm immer seltener ausgetauscht zu haben, als H. den Arbeitsplatz im Sommer 2015 wieder verließ. Anschließend hätten sie sich lediglich sporadisch und meistens auf dem Schießstand getroffen. Im zweiten Vernehmungsvideo hingegen erzählt er, sie hätten die Tat gemeinsam geplant, mit dem Ziel, Lübcke »einen Denkzettel« zu verpassen. Was genau sie sich erhofften, kann Ernst nicht beantworten.

Als Ernst gefragt wird, warum er lieber einen Mord gestand als den »Unfall«, der es nun angeblich war, zuzugeben, spricht er nicht nur von finanzieller Hilfe, die der damalige Anwalt für seine Familie versprochen hatte - möglicherweise von einer »Gefangenenhilfe«. Er sagt auch: Er wollte Gerüchte entkräften, dass es Verbindungen zum NSU gebe, dass es ein größeres Netzwerk gebe - denn das gebe es nicht.

Tatsächlich haben antifaschistische Recherchen und die Linksfraktion in Hessen herausgefunden, dass Ernst mehrmals im NSU-Bericht erwähnt wird. Näher könnten diese Verbindungen im hessischen Untersuchungsausschuss zum Fall Lübcke erörtert werden, der sich am Dienstagabend konstituieren sollte. Unterdessen hat NSU-Watch am Dienstagmorgen das über 3000 Seiten lange Urteil des NSU-Prozesses auf dem Internetportal fragdenstaat.de veröffentlicht.

Lesen Sie auch: Interview mit Sonja Brasch von NSU-Watch Hessen
Alle Texte zum Lübcke-Prozess: dasnd.de/luebcke

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