- Brandenburg
- Christian Görke
Nebenstrecke ist keine Nebensache
Der Linke-Abgeordnete Christian Görke startet seine Sommertour zu stillgelegten Brandenburger Bahnstrecken
Die Regionalbahn RB 63 füllt sich auf einen Schlag. Gleich 16 Personen steigen am Mittwochnachmittag am Bahnhof Templin-Stadt in den Zug nach Eberswalde - Politiker, Manager und Journalisten. An ihrer Spitze der Landtagsabgeordnete Christian Görke (Linke), der sich auf Wunsch der Fotografen vor der Abfahrt um 13.38 Uhr noch einmal für Bilder an einer Tür zeigen soll.
Görke macht in der Sommerpause des Parlaments eine Tour zu stillgelegten Bahnstrecken in Brandenburg, deren Reaktivierung sich angesichts der Bevölkerungsentwicklung und des Klimawandels lohnen könnte. Die jeweiligen Trassen werden mit der Draisine, dem Rad oder einer historischen Ferkeltaxe abgefahren.
Der definierte Zielwert für die Weiterführung der RB 63 von Templin-Stadt nach Joachimsthal liegt bei rund 2,78 Millionen Personenkilometern. So steht es in der Antwort von Verkehrsminister Guido Beermann (CDU) auf eine Anfrage des Abgeordneten Christian Görke (Linke). »Dies entspricht etwa 300 Fahrgästen pro Tag je Kilometer Betriebslänge«, so Beermann.
Die RB 63 kann mit Tempo 60 fahren, streckenweise gilt ein Tempolimit von 50 Kilometern pro Stunde.
Nach der Wende wurden in Ostdeutschland 12 000 Kilometer Bahnstrecken stillgelegt. Zum Vergleich: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dort 6000 Kilometer Gleis abgebaut und als Reparationsleistung für die von Hitlerdeutschland angerichteten Schäden in die Sowjetunion transportiert. af
Hier, von Templin in der Uckermark nach Eberswalde im Landkreis Barnim, kann zum Start der Tour ausnahmsweise eine normale Regionalbahn genommen werden. Denn nachdem der Abschnitt von Templin nach Joachimsthal zuvor zwölf Jahre nicht genutzt worden war, konnte er im Dezember 2018 wieder in Betrieb genommen werden. Jedoch nur für drei Jahre auf Probe. Ob die RB 63 über den Dezember 2021 hinaus bleibt, wurde davon abhängig gemacht, ob es gelingt, pro Tag durchschnittlich mindestens 300 Fahrgäste je Zugkilometer zu befördern.
Detlef Bröcker war zunächst zuversichtlich, dass dieses Ziel erreicht werden könnte. Er ist Geschäftsführer der Niederbarnimer Eisenbahn (NEB). Diese hatte die Ausschreibung gewonnen. Im ersten Jahr, 2018, waren es nur 100 Fahrgäste pro Tag und Kilometer, im zweiten Jahr aber bereits 200. Es wurde Kurs genommen auf die magische 300 - doch dann kam die Coronakrise. Die Schüler fuhren nicht mehr zum Unterricht, viele Berufspendler nicht mehr zur Arbeit, die Touristen blieben weg. Das betraf andere Strecken genauso.
Hier war nun ein Minus von 40 bis 70 Passagieren zu verzeichnen. Jetzt entwickeln sich die Zahlen immerhin langsam wieder aufwärts. Das Minus liegt nur noch bei 30 bis 50. »Ich will aber keinen Pessimismus verbreiten«, versichert Bröcker. Man sei lediglich »ein Stück zurückgeworfen« worden. Bloß: Wie soll jetzt noch der Zielwert von 300 Fahrgästen erreicht werden? Es steigt zwar unterwegs der eine oder andere Fahrgast zu. Es müssten aber weit mehr sein.
»So weltfremd kann keiner sein«, macht der Landtagsabgeordnete Görke Mut. Das Land Brandenburg werde bei der Betrachtung der Zahlen die Coronakrise berücksichtigen müssen, wenn es darum geht, ob die Verbindung weiterhin mit zwei Millionen Euro Zuschuss pro Jahr bestellt wird. Görke selbst hat, als er noch brandenburgischer Finanzminister war, gemeinsam mit der damaligen Verkehrsministerin Kathrin Schneider (SPD) dafür gesorgt, dass die alte Nebenstrecke Templin-Joachimsthal reaktiviert wurde. Sie ist eine von etlichen Querverbindungen in Brandenburg, die es mal gegeben hat und die heute oft schmerzlich vermisst werden. Alles ist strahlenförmig auf die Metropole Berlin ausgerichtet - auch Straßen und Schienen.
Aber die Querverbindungen werden wieder interessant angesichts eines Bevölkerungswachstums, an das schon keiner mehr geglaubt hatte. Nach der Wende ging die Jugend auf der Suche nach Arbeit in den Westen. Es gab einen dramatischen Geburtenknick. Nun aber ziehen Menschen her, die in Berlin arbeiten, aber dort keine bezahlbare Wohnung finden oder auch kein Grundstück für ein Eigenheim. 2,4 Millionen Einwohner hat Brandenburg inzwischen wieder und gewinnt punktuell auch außerhalb des Berliner Speckgürtels Steuerzahler hinzu. Dass dies so schnell geht, hätte vor wenigen Jahren auch Görke nicht gedacht. Jetzt sitzt er nicht mehr als Finanzminister an den Schalthebeln der Macht, sondern als Landtagsabgeordneter in der Opposition. Er kann bitten, fordern und empfehlen. Ob die rot-schwarz-grüne Koalition auf ihn hört, ist eine andere Frage. Aber Görke kann sich nur schwer vorstellen, dass die Grünen zustimmen, wenn die RB 63 abermals beerdigt werden sollte.
Für den Joachimsthaler Amtsdirektor Dirk Protzmann ist die Strecke so etwas wie eine Lebensader. Es sei bitter gewesen, als sie einst stillgelegt wurde, nachdem gerade erst eine zweistellige Millionensumme in die Sanierung geflossen war, erinnert er sich. Protzmann hofft, nicht noch einmal eine Stilllegung miterleben zu müssen. »Der Druck aus Berlin ist enorm groß, und er wächst. Richtung Potsdam sind Baugrundstücke fast nicht mehr zu bezahlen«, argumentiert der Amtsdirektor für den Erhalt. Bevor er in Joachimsthal wegen einer Terminüberschneidung früher aussteigt, bedankt er sich noch bei allen, die sich dafür einsetzen, dass die RB 63 auch künftig verkehrt.
Mehr Fahrgäste ließen sich gewinnen, wenn der letzte Zug in Templin nicht bereits 18.37 Uhr abfahren würde, wird gesagt. Das sei Touristen zu früh, die gern länger bleiben möchten. Auch müsste in Milmersdorf ein Bus die Senioren zum weit vom Ort entfernten Bahnhof bringen, damit sie den Zug zum Arzt in der Stadt nehmen können. Überhaupt wäre ein Stundentakt besser. Bisher verkehrt die RB 63 in der Regel nur alle zwei Stunden. Ein dichterer Takt wäre mit Blick auf die Kapazität der Trasse möglich, sagt NEB-Chef Bröcker. Aber er bräuchte mehr Fahrzeuge, und das würde entsprechend kosten.
Da sieht Brandenburgs Linksfraktionschef Sebastian Walter nicht das Problem. Er rät: »Nicht nur immer fragen: Was können wir uns leisten? Sondern: Was wollen wir uns leisten?« Walter kennt die Strecke. Er hat diesen Zug als Schüler genommen, um von Britz nach Eberswalde zum Unterricht zu kommen.
Holger Lampe, Baudezernent im Landkreis Barnim, lässt keinen Zweifel aufkommen, wie er über die Sache denkt: »Einige Dinge werden wir uns leisten müssen. Unsere Zustimmung ist bei diesem Projekt sicher.« Sein Kollege Karsten Stornowski aus der Kreisverwaltung Uckermark sagt: »Ich bin ein bisschen skeptisch, ob wir die Zahl 300 erreichen werden. Was machen wir, wenn es nicht so viele Fahrgäste sein werden?« Nun ja, in der Prignitz gebe es auch Verbindungen mit weniger als 200 Fahrgästen, erläutert Thomas Dill vom Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg. Er richtet den Blick schon mal über das Jahr 2024 hinaus. Man könnte den Bestand der RB 63 bis ins Jahr 2036 vereinbaren. Allerdings sollten ab 2024 die Züge nicht mehr mit Dieselkraftstoff angetrieben werden, sondern mit Strom aus Batterien.
Der Abgeordnete Görke ist ohnehin dafür, gleich langfristig zu planen. Eine Verlängerung der Pilotphase wäre für ihn nur ein taktisches Manöver, wenn mehr nicht sofort zu erreichen ist. So oder so müsse man im März kommenden Jahres eine Entscheidung haben, ob und wie es mit der RB 63 weitergeht, sagt Görke.
Der Zug kommt um 14.44 Uhr in Eberswalde an. Dort hat Görke Anschluss an den Regionalexpress nach Berlin. Auf dem Bahnsteig warten eine Menge Reisende auf diesen anderen Zug. Einige werden sich auf Treppenstufen in den Doppelstockwaggons setzen müssen, weil sie keinen Sitzplatz mehr finden.
Die Templiner Politiker - der Landtagsabgeordnete Andreas Büttner, Bürgermeister Detlev Tabbert (beide Linke) und die Stadtverordnete Annett Polle (CDU) - wollen von Eberswalde zurück in ihre Stadt und nehmen wieder die RB 63. Die stoppt aber jetzt erst mal in Joachimsthal. Für den Rest des Wegs müssen Büttner, Tabbert und Polle den Bus nehmen oder auf den nächsten Zug warten. Erst in zwei Stunden gibt es wieder eine direkte Zugverbindung nach Templin.
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