Du kommst hier nicht rein

Vor dem NC sind alle gleich. Aber manche sind gleicher.

  • Susanne Romanowski
  • Lesedauer: 5 Min.

Mitte Juli ist es wieder so weit: Eine sechsstellige Anzahl von Abiturient*innen drängt an die Universitäten und möchte ein Studium beginnen. Zehntausende von ihnen, viele mit guten, sogar sehr guten Noten, mit Praxiserfahrung und Begeisterung, bewerben sich um Plätze in Fächern wie Medizin und Pharmazie. Bloß: Die meisten werden Absagen erhalten. Grund dafür ist der Numerus clausus (NC), also eine Zulassungsbeschränkung, die dann gilt, wenn es für einen Studiengang mehr Bewerber*innen als Plätze gibt. Aktuell gilt das für rund 40 Prozent der Studiengänge in Deutschland. Seit 2004 ist die Abiturnote nicht mehr das einzige, aber sicher das kontroverseste und nach wie vor wichtigste Kriterium.

Eingeführt wurde der NC ausgerechnet 1968, auf dem Höhepunkt der Studierendenbewegung, die sich auch gegen veraltete, universitäre Strukturen stellte. Die Begrenzung, die eigentlich eine Übergangslösung sein sollte, ist bis heute gängige Praxis - und immer wieder Thema am Bundesverfassungsgericht. Am grundlegenden Problem, dem Mangel an Studienplätzen, hat sich kaum etwas geändert. Wie konnte das passieren und wie gehen Studierende damit um?

1968 standen die Universitäten der Bundesrepublik vor einem Problem: Seit Mitte der 50er hatte sich die Anzahl der Studierenden mehr als verdoppelt. Gerade in kosten- und betreuungsintensiven Fächern wie Medizin und Pharmazie waren die Universitäten überfordert. Eine Zulassungsbeschränkung musste her. Die Westdeutsche Rektorenkonferenz verabschiedete also einen Katalog von Notmaßnahmen, dessen wichtigstes Element der NC war - wenn auch »zeitlich befristet«. Eine Entfristung könnte, das wurde von Anfang an betont, im Konflikt mit dem Grundgesetz stehen. In Artikel 12 steht: »Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.«

Mit dieser Begründung streikten schon im April 1970 Tausende Schüler*innen gegen den NC. Zudem klagten viele Studierende gegen die absurde Situation, zu der die Einrichtung des NC geführt hatte. Obwohl die Plätze in den einschlägigen Fächern so begehrt waren, blieben viele unbesetzt, weil die Anwärter*innen sich absichern wollten und an mehreren Universitäten bewarben. Das Bundesverfassungsgericht sprach 1972 ein erstes Urteil: Hochschulen müssten ihre Kapazitäten ausschöpfen, die Studienplatzvergabe für Pharmazie, Human-, Zahn- und Tiermedizin wird seitdem zentral abgewickelt.

2017 wurde die Zulassungsbeschränkung erneut am Verfassungsgericht diskutiert: Der NC an sich sei nicht unbedingt verfassungswidrig, seine Umsetzung aber teilweise schon. In der Folge entschied das Gericht unter anderem, dass die professionelle, notenunabhängige Eignung bei der Auswahl eine größere Rolle spielen solle. Für Medizin und Pharmazie gibt es deshalb seit dem laufenden Semester eine zusätzliche Eignungsquote von 10 Prozent. Außerdem soll die Abiturnote auch beim hochschuleigenen Auswahlverfahren, über das 60 Prozent der Plätze vergeben werden, weniger berücksichtigt werden.

Ein Ende des NC-Verfahrens ist zunächst also nicht abzusehen. Das liegt auch daran, dass die Hochschulen mit der hohen Nachfrage nach Studienplätzen in Medizin nicht hinterherkommen. Die Schaffung neuer Plätze dort ist aufwendiger und teurer als die in anderen Studiengängen. Während etwa ein BWL-Platz die Hochschule 5000 Euro im Jahr kostet, schlägt der Platz in Medizin mit 30 000 Euro jährlich zu Buche. Dieser Umstand wird dadurch verschärft, dass Deutschland, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, verhältnismäßig wenig in Bildung investiert. Im Vergleich mit den anderen OECD-Ländern bleibt Deutschland unter dem Durchschnitt.

Nicht nur die Abschaffung des NC an sich ist eine Frage des Geldes, sondern auch die individuellen Möglichkeiten, ihn zu umgehen. Ein Weg ist die Studienplatzklage, die mitunter Tausende Euro kosten kann. Ironischerweise gilt bei den Klagen das gleiche Prinzip wie bei der Bewerbung ums Studium: je weniger Mitbewerber*innen, desto höher die Erfolgschancen. Von 282 Klagen, die die Berliner Charité im letzten Wintersemester erreichten, waren 30 erfolgreich. Offizielle Zahlen dazu, wie viele Bewerber*innen deutschlandweit klagen, gibt es nicht.

Eine weitere Option sind Privatuniversitäten im europäischen Ausland, die das Medizinstudium auf Englisch oder Deutsch anbieten. Unzählige Vermittlungsagenturen bewerben vor allem das Studium in Osteuropa, wo statt der Abiturnote oft Leistungskurse in Naturwissenschaften oder praktische Erfahrungen besonders berücksichtigt werden. Die Studiengebühren schwanken, pro Jahr werden etwa in Ungarn oder Polen aber fünfstellige Beträge fällig. Auch dazu, wie viele Medizinstudierende ins Ausland ausweichen, gibt es keine konkreten Zahlen.

Schon unabhängig davon, wie sinnvoll unterschiedliche Auswahlverfahren für überlaufene Fächer sind, wird klar: Da, wo es besonders knapp ist, entscheidet sich am unfairsten aller Kriterien, wer studieren darf: am Geld. Und wenn es im Grundgesetz schon heißt, dass alle Deutschen die Chance haben sollten, ihre Ausbildung und ihren Beruf frei zu wählen, sollten unterschiedliche Lebensrealitäten dabei bedacht werden. Zahlreiche Studien ergeben, dass Kinder aus nicht-akademischen oder migrantischen Elternhäusern schon in der Schule schlechter bewertet werden. Das spiegelt sich auch in der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks: Während im Schnitt aller Fächer die Hälfte der Studierenden aus Arbeiter*innenfamilien kommt, ist es bei Medizin, Pharmazie und Jura nur ein Drittel. Es ist ein gutes Zeichen, dass das Monopol der Abiturnote langsam, aber beständig abgetragen wird. Das Einbeziehen weiterer Kriterien ermöglicht den Diskurs darüber, welche Anforderungen für wen zu bewältigen sind. Ohne massive Investitionen in die Schaffung neuer, zugänglicher Plätze bleiben die Änderungen aber reine Symptombehandlung.

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