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Die Schiene aufs Land zurückbringen
Auf alten Bahnstrecken sollen bald wieder Züge rollen
Jahrzehntelang wurden in West und Ost Bahnstrecken stillgelegt und weite Landstriche von der Schiene abgehängt. Doch Klimadebatte und Streben nach gleichen Lebensverhältnissen haben ein Umdenken ausgelöst. Über etliche Trassen, die noch nicht entwidmet, überbaut oder zu Radwegen und Straßen umfunktioniert wurden, rollen jetzt oder demnächst wieder Züge.
Zu den treibenden Kräften, die auf ein Comeback der Schiene abseits der Metropolen und Korridore drängen, gehören der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) sowie die Allianz pro Schiene, die Gewerkschaften, Berufs-, Fahrgast- und Umweltorganisationen umfasst. Beide hatten Mitte 2019 eine detaillierte Liste bestehender Trassen vorgelegt, die relativ rasch aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und wieder in Betrieb gehen könnten, darunter auch Strecken in das benachbarte Ausland.
»Bürgermeister und Landräte rennen uns inzwischen die Bude ein«, so Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene am Donnerstag bei der Präsentation eines aktualisierten Papiers zur Reaktivierung von Bahnstrecken für den Personen- und Güterverkehr. Darin sind 238 Strecken mit insgesamt 4016 Kilometer Länge aufgelistet. Quer durch politische und gesellschaftliche Gruppen sei ein starkes Interesse vorhanden. Mit der Neufassung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) sei es nun möglich, dass der Bund 90 Prozent der Baukosten aufbringt. Damit sei die restliche Finanzierung durch Länder und Kommunen überschaubar, so Flege.
Potenzielle Gewinner einer Reaktivierung wären Mittelzentren wie Schleiz, Havelberg, Brunsbüttel, Aurich, Clausthal-Zellerfeld, Würselen, Künzelsau, Simmern oder Dinkelsbühl. Von bundesweit rund 900 Mittelzentren seien 123 Städte derzeit nicht an den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) angeschlossen. Bei 57 dieser Orte erscheine die Reaktivierung als sinnvoll und praktikabel, bei 25 weiteren sei eine nähere Prüfung nötig. Ein Bahnanschluss allein für diese Orte käme rund 1,3 Millionen Bewohnern sowie vielen Menschen entlang der Strecken zugute, ist Flege überzeugt. Reaktivierung sei auf jeden Fall günstiger als Neubau. »Wir bringen die Schiene in die ländlichen Räume zurück«, so sein Fazit. Nun sei die Politik vor Ort am Zuge und müsse die Richtung bestimmen. Auch wenn die Corona-Pandemie die Fahrgastzahlen gedrückt habe, würden die Bauarbeiten fortgesetzt, unterstreicht Flege.
Dass es funktionieren kann, zeigen praktische Erfahrungen. Oft seien bescheidene Fahrgastprognosen in der Praxis weit übertroffen werden, sagt Jörgen Boße, Leiter der VDV-Arbeitsgruppe Infrastruktur. Als Geschäftsführer der DB-Tochter Usedomer Bäderbahn (UBB) steht Boße für ein seit den 1990er Jahren aufgebautes Erfolgsmodell, das sich mit neuer Signaltechnik, modernen Fahrzeugen und Halbstundentakt sehen lassen kann und die Schiene auf der östlichsten deutschen Insel aufgewertet hat. Nun müsse endlich auch die touristisch interessante Strecke von Barth nach Prerow auf der Ostsee-Halbinsel Fischland-Darß-Zingst in Angriff genommen werden, forderte Boße. Dabei wiege das übergeordnete Interesse stärker als die Bedenken einzelner Anrainer gegen vorbeifahrende Züge oder die Rodung wilder Rosenhecken auf dem Bahnkörper. »Wir rechnen damit, dass die Wiederbelebung stillgelegter Strecken erheblich an Fahrt aufnimmt«, so Boße.
Seit der Bahnreform im Jahr 1994 wurden bundesweit 933 Kilometer Schiene für den SPNV und 364 Kilometer für den Güterverkehr wieder in Betrieb genommen. Gleichzeitig wurde jedoch auf 3600 Kilometern der Personenverkehr eingestellt. So schrumpfte das bundesdeutsche Schienennetz von 44 600 auf derzeit rund 38 500 Kilometer. Es sei sinnvoll, die Mehrzahl der stillgelegten Strecken wieder in Betrieb zu nehmen, betonte Flege. »Wenn alles strikt wirtschaftlich sein sollte und die Kommunen alleine die Kosten aufbringen müssten, dann könnte kein Kilometer Landes- oder Bundesstraße gebaut werden und müssten viele Straßen stillgelegt werden«, betont der VDV-Chef. Nur mit den vorgeschlagenen Reaktivierungen und einem Netzausbau sei das Ziel der Bundesregierung zu schaffen, bis 2030 das bundesweite Fahrgastaufkommen zu verdoppeln und den Anteil der Schiene am Güterverkehr auf 25 Prozent zu steigern, ist Flege überzeugt.
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