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Wut über den Stillstand
Die Berliner Verkehrswende wird zum Problem für Regine Günther und die Grünen. Von Nicolas Šustr
Wer keine verbindlichen Ziele vorgibt, will keine Verantwortung übernehmen«, sagt Denis Petri am späten Donnerstagnachmittag mitten auf der Kreuzung Malteserstraße/Paul-Schneider-Straße in Lankwitz, einem Ortsteil am Südrand Berlins. Vor ihm liegt ein weißes Fahrrad auf der Straße, ein sogenanntes Geisterrrad. Es soll an den 49-jährigen Vater erinnern, der in der Vorwoche an dieser Stelle von einen abbiegendem Lkw überrollt worden ist und im Krankenhaus starb. Der sechste Radler, der auf diese Weise 2020 sein Leben verlor, der zehnte getötete Radfahrer seit Jahresbeginn
Dutzende sind gekommen, trotz strömenden Regens. Der weit überwiegende Teil bürgerlich und jenseits der 40. Sie sitzen auf dem Asphalt der Kreuzung, neben ihnen liegen die Räder. Einer kniet in der Pose, wie sie seit den aufgeflammten Black-Lives-Matter-Protesten immer wieder zu sehen ist. Verbindliche Ziele, das verlangt Petri, der Vorstandsmitglied im Verein Changing Cities ist, für die im vor zwei Jahren in Kraft getretenen Mobilitätsgesetz postulierte »Vision Zero«, also die Vorgabe, irgendwann keine Verkehrstoten mehr beklagen zu müssen. Pitschnass vom Regen, verlangt er einen verbindlichen Zeitplan auf diesem Weg, der eine Messlatte für den Fortschritt der Maßnahmen sein soll. Damit könnte Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne) die Erfüllung ihrer Politikziele klar belegen. Oder auch nicht, dann müsste sie sich rechtfertigen. Genauso sehen die Radler auch die Verantwortlichen in den Bezirken und nicht zuletzt Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in der Pflicht. Zu dessen Amtssitz in Mitte brechen die meisten Teilnehmer der Mahnwache anschließend noch auf.
Regine Günther war nicht bei der Mahnwache, obwohl Organisatorin Kerstin Leutloff sie dazu aufgefordert hatte, »damit Sie ein Gefühl dafür entwickeln, wie es ist, öfter als einmal pro Monat eines verkehrstoten Radfahrenden in Berlin zu gedenken«.
Dafür war die Berliner Verkehrssenatorin am Morgen in Angermünde, im Norden Brandenburgs, um die Finanzierungsvereinbarung für den Ausbau der Eisenbahnstrecke nach Szczecin zu unterzeichnen. Ihr brandenburgischer Amtskollege Guido Beermann (CDU), dessen Regierung wie die Hauptstadt 50 Millionen Euro zu den 380 Millionen des Bundes dazugibt, geriet bei dem Termin ins Schwärmen - für die Autobahn. Er berichtete über die offizielle Eröffnung eines ausgebauten Abschnitts des Berliner Autobahnrings A10. »Es ist das erste achtspurige Stück in den neuen Bundesländern«, so der Minister stolz.
So etwas würde bei der Grünen-Basis nicht sonderlich gut ankommen. Ähnlich ist es auch mit dem großen Interesse, das Regine Günther am sehr teuren U-Bahnbau erkennen lässt. »Hier wird der Mythos gepflegt, dass die Umweltverwaltung gegen einen U-Bahn-Ausbau ist. Das ist nicht der Fall«, sagte sie am Dienstag bei der Senats-Pressekonferenz. »Ganz offensichtlich hat sich die Lobby des Autoverkehrs in einer von Grünen dirigierten Senatsverwaltung erfolgreich durchgesetzt«, schrieben wenige Tage zuvor die Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Mobilität und der Grünen Jugend in einem Gastbeitrag für die »taz« zu solchen Überlegungen und wiesen neben vielen anderen Argumenten für mehr Straßenbahn und gegen die U-Bahn auch auf den enormen CO2-Fußabdruck solcher Riesenbaumaßnahmen hin.
Die Grünen-Parteibasis, die Linke, Fahrgast- und Verkehrsverbände, sie alle ärgert an der einst von der SPD losgetretenen U-Bahn-Debatte, dass der Straßenbahnausbau wesentlich schleppender vorankommt als im Koalitionsvertrag 2016 vereinbart. Mit ihm könnten überfüllte und unpünktliche Busse am effizientesten ersetzt, der Straßenraum zuungunsten des Autos umverteilt, die Attraktivität des Nahverkehrs in großen Teilen der Stadt gesteigert werden. Wenn Regine Günther nun bis zur Realisierung einer Straßenbahnstrecke schon mindestens acht Jahre veranschlagt, dann kann man bei der U-Bahn getrost von 20 Jahren ausgehen. Viel zu lange Fristen für eine schnelle Verkehrswende.
Ein langes Ringen war es auch um die autofreie Friedrichstraße. In der zweiten Augusthälfte soll es nun endlich mit dem Verkehrsversuch losgehen. Bis Ende Januar soll die Geschäftsstraße in Mitte zwischen Französischer und Leipziger Straße Fußgängern und Radfahrern vorbehalten sein. »Der Gehbereich wird auf jeweils 8,50 Meter pro Seite mehr als verdoppelt, in der Mitte gibt es pro Richtung eine zwei Meter breite Radspur«, sagt Stefan Lehmkühler zu »nd«. Er hat sich mit Stadt für Menschen, einem Projekt von Changing Cities, beharrlich für dieses Ziel eingesetzt. »Die Leute haben noch gelacht, als ich vor drei Jahren gesagt hatte, dass ich die Friedrichstraße autofrei machen will«, erinnert er sich. Der Widerstand gerade auch des Handelsverbands war enorm. Und auch nachdem eine knappe Mehrheit der Anrainer sich für das Vorhaben ausgesprochen hat, sagte SPD-Fraktionschef Raed Saleh der dpa: »Es darf keinen Alleingang der Verkehrsverwaltung geben.«
»Die eigentlichen Aktivitäten sind relativ zügig gelaufen«, berichtet Lehmkühler rückblickend. Allerdings habe es dazwischen sehr lange Pausen gegeben. »Ich bin froh, dass der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, den Eindruck gebrochen hat, dass es sich dabei nur um ein verkehrliches Thema handelt.« Der Grünen-Politiker hat auch die Wirtschaftsförderung mit ins Boot geholt. Denn immer weniger Menschen wollen in der engen und baumlosen Straße mit glühenden Temperaturen im Sommer flanieren und einkaufen, die Geschäfte darben. Es soll Modenschauen geben, der Weihnachtsmarkt soll sich vom Gendarmenmarkt bis auf die Straße ziehen. »Inzwischen melden sich Händler aus der Friedrichstraße südlich der Leipziger Straße bei uns und wollen, dass die Autos auch dort verschwinden«, freut sich Lehmkühler. Die Sache könnte einen Lauf bekommen, weil der studierte Verkehrsplaner und weitere Engagierte beharrlich waren und Partner für das Projekt gewinnen konnte.
Regine Günther scheint mit dem Bündnisse schmieden eher Probleme zu haben. Egal ob ihre eigene Parteibasis, die verschiedenen verkehrspolitischen Initiativen und Verbände. Fast unisono ist die Klage über mangelnde Kommunikation. Sie baue nur zu wenigen ein Vertrauensverhältnis auf, sagen auch Menschen, die sie schon lange kennen. Ein Problem, wenn die ganze Stadt beim Umsteuern in der Verkehrsfrage mitgenommen werden muss. Dementsprechend wird sie auch fast nur kritisiert, obwohl an einigen Stellen in Berlin die Verkehrswende durchblitzt. Mit den Corona-Radstreifen an Berliner Hauptstraßen ist ihr sogar ein echter Coup geglückt.
»Man kann nicht sagen, dass bei der Verkehrswende die letzten Jahre richtig Gas gegeben wurde«, sagt Stefan Lehmkühler, der dieses Jahr bei den Grünen eingetreten ist. »Die einzige, die in den letzten Jahren in diesem Kontext Erfolge gehabt hat, ist Regine Günther«, erklärt er. Felix Weisbrich, den Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes Friedrichshain-Kreuzberg, der zusammen mit dem Leiter der neuen Abteilung Mobilitätsmanagement in der Verkehrsverwaltung, Christian Haegele, die Pop-up-Radwege auf die Straße gebracht hat, sieht er auch noch auf der Habenseite. »Aber die restlichen Bezirke kannst Du in der Pfeife rauchen«, so Lehmkühler. Es fehlten Expertise und Leidenschaft bei den Zuständigen - darunter viele Grüne.
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