Kinderrecht vertrödelt
Wegen eines Brandenburger Urteils kann ein Vater die bereits bewilligte Rückkehr seiner entführten Söhne nicht durchsetzen
»Ich glaube das nicht nur, sondern ich bin mir sicher«, sagt der Mann, der schon allen Grund hätte, an nichts mehr zu glauben. »Das kann nicht das Ende gewesen sein. Das Urteil ist doch ein Witz.« Björn Echternach schmunzelt erst, dann kneift er die Augen zusammen. Die Sonne scheint heute so stark, dass die Schirme auf der Terrasse kaum Schutz bieten. In einem Restaurant am Potsdamer Platz in Berlin ist der Sommer ausgebrochen. Echternach, 42 Jahre alt, blaues Poloshirt, eine eckige Brille auf der Nase und einen Backfisch mit Kartoffelsalat vor sich, wirkt gelassen wie im Urlaub. »Nach allem, was ich hinter mir hab’, beeindruckt mich das auch nicht mehr«, sagt er.
Dieser Mann hat eine Menge hinter sich. Da ist nicht nur das schwere Los, dass er seit einem Frühlingstag vor drei Jahren ohne seine zwei Söhne Karl und Johann leben muss. Die mittlerweile fünf- und sechsjährigen Jungen wurden im Zuge der Trennung zwischen ihm und seiner japanischen Frau nach Japan verbracht. Ein mehrjähriger Rechtsstreit vor deutschen und japanischen Gerichten folgte, den Echternach zunächst auf allen entscheidenden Ebenen für sich entschied. Selbst im Rahmen des Haager Kindesentführungsübereinkommen urteilte erstmals auch ein japanisches Gericht für die Rücküberführung beider Kinder von Japan zu ihrem vorigen Wohnort.
»Meine Ex hatte sich verpokert«, sagt Echternach, legt das Besteck ab und setzt sein eigenes Pokerface auf. »Sie hat mir unterstellt, ich hätte meine Kinder misshandelt. Das war dreist. Nach begleitetem Umgang wiesen aber die Gutachter und die Gerichte all ihre Vorwürfe zurück. Dann stand sie ziemlich doof da.« Die Anwältin von Echternachs Ex-Frau reagierte auf eine Anfrage nicht. Die betreffenden Gutachten dagegen liegen dieser Zeitung vor. Darin wird Björn Echternachs Ex als bindungsintolerante Person beschrieben, die zu ihrem eigenen Vorteil falsche Anschuldigungen gemacht hat.
Dass Björn Echternach den Prozess gewann, hatte aber nicht nur mit den unglaubwürdigen Behauptungen zu tun, die die Mutter seiner Kinder aufgestellt hatte. Seine Ex-Frau trieb es, so schien es, auch mit der deutschen Justiz zu weit. Indem sie sich ohne Absprache mit den Kindern nach Japan absetzte, ignorierte sie ein Urteil des Amtsgerichts Nauen in Brandenburg, wo das Paar bis zu seiner Trennung mit seinen Kindern gelebt hatte. Das Gericht Nauen hatte befunden, dass dem Vater das alleinige Sorgerecht übertragen werde. Mit diesem Beschluss im Rücken verlangte dann auch die japanische Justiz: Karl und Johann Echternach müssten zurück nach Deutschland gebracht werden.
Hier sollte die Akte geschlossen sein. Eigentlich. »Aber ich hab’ meine beiden Söhne noch immer nicht wiedergesehen«, sagt Echternach. Als er das sagt, ist das Pokerface verschwunden, die Sonne scheint ihn nicht mehr zu kitzeln, eher zu ärgern. »Ich weiß nicht mal, ob Karl und Johann noch leben. Karl müsste diesen Frühling eingeschult worden sein. Aber ich weiß nicht, ob er in Japan zur Schule geht.« Echternachs Problem war in den letzten Jahren nämlich nicht die Justiz, die er stets auf seiner Seite wusste. Es war die Exekutive, die den Auftrag hat, diese Urteile umzusetzen. »In Japan ist seit dem Urteil nichts passiert. Die Polizei sucht die Kinder gar nicht. Sie sagt, sie hat keine Ahnung, also könne sie auch nichts tun.«
Will Japan partout die Interessen seiner Staatsbürger schützen, selbst wenn diese Kinder entführen? Dieser Verdacht wird mittlerweile vielerorts gehegt. Weltweit sind mehr als 100 Fälle von Kindesentführungen nach Japan anhängig, die nicht geklärt werden konnten. Die Regierungen Italiens, Frankreichs und Deutschlands, wo es jeweils mehrere Fälle zu beklagen gibt, haben das Thema wiederholt gegenüber japanischen Vertretern angesprochen. Auch die Europäische Union hat sich des Themas angenommen. Resultate gibt es bisher nicht.
Die Tokioter Nichtregierungsorganisation Kizuna, die auch zurückgelassene Elternteile aus Japan vertritt, glaubt, einen Grund für die Untätigkeit japanischer Behörden zu kennen. Bei einem Treffen in einem Café in der Innenstadt Tokios lehnt sich Andrew Gomez, ein schnauzbärtiger Mann im Anzug und Gründer von Kizuna, an einen Stehtisch. »In Japan kommt es häufiger vor als in anderen Ländern, dass nach der Trennung der Vater seine Kinder nicht oder kaum mehr zu Gesicht bekommt. Das ist ein Riesenproblem hier.« Ein Problem traditioneller Geschlechterrollen, aber auch eines der Resignation von Männern. Denn Klagen gibt es in Japan in dieser Sache kaum.
Wie groß das Problem sein dürfte, rechnet Gomez vor: »Wenn man den Mittelwert aus diversen Umfragen zwischen geschiedenen Eltern nimmt, die den Zugang zu ihren Kindern verloren haben«, sagt er mit zählenden Fingern, »und diesen Wert mit den Scheidungsstatistiken in Japan kombiniert, dann müsste es allein in Japan über die letzten 20 Jahre 150 000 Kindesentwendungen pro Jahr gegeben haben.« Für Gomez ist die Sache so klar wie für viele Eltern, die ihre Kinder nicht mehr sehen können: »Würden Japans Behörden bei den internationalen Entführungsfällen nachgeben und ein Urteil wie das von Björn Echternach umsetzen, dann könnten sie auch die viel häufigeren Fälle im Inland nicht mehr ignorieren.« Also blieben die öffentlichen Stellen lieber untätig.
Auch deshalb ruhten bisher so große Hoffnungen auf dem Fall von Björn Echternach. Schließlich hatte zuvor kein Elternteil, dessen Kinder nach Japan entführt wurden, je ein Rückführungsurteil auf Grundlage des Haager Abkommens erstritten. »Wir waren schon richtig weit gekommen«, sagt Echternach. »Auch das Auswärtige Amt hat sich für meine Söhne eingesetzt.« Echternach sagt dies, während er ausgedruckte Bilder von Karl und Johann ansieht. Auf dem Spielplatz in Berlin, im Streichelzoo, bei Opa. Dann stockt seine Stimme. »Aber jetzt ist die jahrelange Arbeit vielleicht zunichte gemacht.«
Während Echternach nämlich bisher seinen größten Gegner in den japanischen Behörden sah, hat vor kurzem auch die deutsche Justiz gegen ihn entschieden. Gegen das Urteil des Amtsgerichts Nauen hatte seine Ex-Frau Berufung eingelegt, über drei Jahre war das Verfahren dann beim Oberlandesgericht in Brandenburg an der Havel anhängig. Im April beschloss dort der vierte Senat für Familiensachen schließlich: Nun, da so viel Zeit vergangen sei, sollten die Kinder doch lieber in Japan bleiben, wo sie mittlerweile Wurzeln geschlagen hätten. Warum das Urteil so lange auf sich warten ließ, darauf gibt die Pressestelle des Gerichts auf Anfrage keine deutliche Antwort. Das Sorgerecht ist damit jedenfalls auf die Mutter übergegangen, die die Kinder einst entwendet hat.
»Das ist eine Frechheit«, sagt Echternach. Von seiner legeren Stimmung zu Beginn des Termins ist nichts mehr zu spüren. Er wirkt verzweifelt. »Ich weiß nichts über das Leben von Karl und Johann. Und das liegt nicht an mir. Und jetzt soll auch noch ein deutsches Gericht nach allen Bemühungen einen Strich durch die Rechnung machen?« Zwar bleibt das Tokioter Urteil über die Rücküberführung der Kinder rechtskräftig. Doch indem ein deutsches Gericht diese für unnötig erklärt, hat der Druck auf die japanischen Behörden, geltendes internationales Recht auch durchzusetzen, deutlich nachgelassen.
Echternach und den anderen Eltern, die ihre Kinder nicht mehr sehen dürfen und deshalb diesen Fall verfolgen, könnte immerhin dies ein Trost sein: Nicht nur haben die Verfahrensbeiständin im deutschen Prozess eine Anhörungsrüge vorgelegt und das Jugendamt den Beschluss kritisiert. Auch Verfassungsexperten sind alarmiert.
Anruf bei Matthias Dombert, ehemaliger Verfassungsrichter und Juraprofessor an der Uni Potsdam: »Der Fall macht schon wegen der Schwere der Konsequenzen Kopfschmerzen«, sagt er am Telefon in klaren Worten. Das Oberlandesgericht werde der Schwere seiner Entscheidung nicht gerecht. Zudem habe das Oberlandesgericht durch die lange Dauer, die es für das Urteil gebraucht hat, die Tatsachen für seine Begründung erst selbst geschaffen.
Dombert hat deshalb Verfassungsklage eingereicht. Der ehemalige Verfassungsrichter geht davon aus, dass das Urteil aus Brandenburg damit rückgängig gemacht wird. Dann wird womöglich ein neuer Prozess aufgelegt, der sich wieder um Jahre hinziehen könnte. Björn Echternach sagt, er würde sogar noch weitergehen, wenn es sein muss, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Schließlich würden hier vor allem die Rechte seiner beiden Söhne verletzt, Umgang mit all ihren Familienmitgliedern haben zu können. Und dies betreffe indirekt die Rechte aller Kinder.
Am Potsdamer Platz ist die Sonne verschwunden. Böen lassen die Sonnenschirme klappern, der Kellner muss weggewehten Aschenbechern hinterherrennen. Auch Björn Echternach braust auf. Aufgeben will er nicht. Über die letzten Jahre hat er sich mit anderen zurückgelassenen Eltern zusammengetan, um internationale Interessenarbeit zu leisten. Jetzt schmiedet er weitere Pläne. »Notfalls gründe ich noch eine weitere Hilfsorganisation, die dann Richtern auf die Finger schaut.« Das gut 20-seitige Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg habe er schon online veröffentlicht.
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