Die Säle sind voll

Die Ärztin Carlota Salomón berichtet von ihrem Corona-Alltag in einem Krankenhaus in Buenos Aires

  • Marcus Christoph, Buenos Aires
  • Lesedauer: 7 Min.

Dass Patienten mit schweren Schusswunden in ihre Abteilung eingeliefert werden, ist für Carlota Salomón eigentlich nichts Ungewöhnliches. Seit 26 Jahren arbeitet die Ärztin im Krankenhaus »José María Penna« in Parque Patricios, einem Stadtteil im Süden von Buenos Aires. In der Gegend liegen auch einige der Elendsviertel - in Argentinien »Villas« genannt -, in denen es immer mal wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.

So auch kürzlich, als zwei Männer aus der »Villa 21-24« nach einer Schießerei ins Krankenhaus gebracht wurden. Das Leben eines der beiden konnten die Ärzte nicht mehr retten. Der andere, der 35-jährige Mario, überlebte und blieb länger als geplant im Hospital. Der Grund: Nach der Operation, bei der die Chirurgen die Kugel aus Marios Gesicht entfernten, stellte sich heraus, dass der Mann ein weiteres gesundheitliches Problem hatte. Er war coronapositiv.

Der Versuch, Marios Partnerin vom erfolgreichen Verlauf der Operation zu unterrichten, ergab, dass die Frau wegen einer Corona-Infektion in einem anderen Krankenhaus der Hauptstadt behandelt wurde. So machte man vorsichtshalber einen Test mit Mario, der positiv ausfiel. Auf diese Weise kam er auf die Corona-Station, in der Salomón seit Beginn der Pandemie in Argentinien Mitte März arbeitet.

Im Hospital Penna kursierten in den Folgetagen Gerüchte, dass es sich bei der Schießerei um eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Drogenbanden gehandelt haben könnte. Infolgedessen herrschte eine gewisse Angst, die Kämpfe könnten eine Fortsetzung im Krankenhaus finden. Doch die Pistoleros verschonten die medizinische Einrichtung, und Mario konnte nach einer Woche das Hospital verlassen. Das Coronavirus hatte bei ihm nur die Symptome einer leichten Lungenentzündung verursacht. Als Dank für die gute Behandlung schickte der entlassene Patient dem Ärzteteam einige Tage später ein großzügiges Asado, wie in Argentinien Köstlichkeiten vom Grill genannt werden.

Dies ist nur eine Geschichte, die Carlota Salomón zu erzählen weiß. Fast 300 Patienten hat sie in den zurückliegenden vier Monaten betreut. Am Anfang stand eine eher skurrile Situation. Die Ärztin hatte sich ihre aufwendige Schutzkleidung angezogen und näherte sich ihrer ersten Corona-Patientin, um dieser Blut abzunehmen. Salomón konnte sehen, wie sich die im Krankenbett liegende Frau vor dem Astronautenanblick regelrecht erschrak.

Doch das Unwohlsein war ganz beiderseits: »Zum Glück konnte die Patientin nicht sehen, dass ich selber Angst hatte«, berichtet Salomón. Dies lag daran, dass vom Gesicht der Medizinerin aufgrund von Schutzbrille, Mundschutz und Helm kaum etwas zu erkennen war. Die 56-jährige Patientin konnte zum Glück nach einigen Tagen als genesen entlassen werden. Aber die Szene reflektiert, wie ungewohnt der Umgang anfangs mit der Seuche war.

Im Hospital Penna, einem von 13 öffentlichen Akutkrankenhäusern in der Hauptstadt, hatte man vor knapp vier Monaten damit begonnen, einen Trakt mit 36 Betten für Corona-Patienten vorzubereiten. Da dies den Bereich betraf, wo Salomón auch in normalen Zeiten arbeitet, war die Internistin von Beginn an an vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie dabei. Sie koordiniert derzeit den Einsatz von 25 Ärzten, darunter zwei Infektiologen, sowie 30 Krankenschwestern und Pflegern. Eine harte Erfahrung mit Infektionskrankheiten hatte Salomón bereits in früheren Jahren gemacht, als sie freiwillig in den »Villas« des Großraums Buenos Aires arbeitete und sich mit Tuberkulose ansteckte.

Im Hospital verliefen die ersten Corona-Wochen - gemessen an den ursprünglichen Befürchtungen - zunächst noch relativ ruhig. Bei vielen Patienten, die eingeliefert wurden, stellte sich nach einigen Tagen heraus, dass sie coronanegativ waren. Oftmals litten sie stattdessen an Denguefieber, dessen Symptome denen von Covid-19 zum Teil ähneln. Kennzeichnend für die Anfangszeit war eine große Unsicherheit: »Wenn man morgens zur Arbeit fuhr, wusste man überhaupt nicht, was einen erwartete«, schildert Salomón.

Mittlerweile hat sich zwar eine Routine eingespielt, aber die Situation insgesamt spitzt sich zu. Die Corona-Abteilung wurde in das Hauptgebäude des Krankenhauskomplexes verlegt. Zudem machte man Betten in den Bereichen Orthopädie und Urologie frei. Derzeit ist Platz für 60 Corona-Patienten. Es stehen Sechserräume mit je einem Bad zur Verfügung.

Die Ausstattung eines öffentlichen Krankenhauses in Argentinien, das für In- und Ausländer eine kostenlose Versorgung anbietet, ist indes eher spartanisch - nicht vergleichbar mit Krankenhäusern in Deutschland. Und es ist absehbar, dass die Kapazitäten noch einmal erweitert werden müssen. In den vergangenen Wochen stiegen die Infektionen im Großraum Buenos Aires stark an.

Viele der Corona-Patienten im Hospital Penna kommen aus den Elendsvierteln oder aus Obdachlosenunterkünften - Orten also, wo viele Menschen auf engstem Raum zusammenleben und oft mangelnde hygienische Bedingungen eine Corona-Vorbeugung schwer machen.

Auf Salomóns Station kommen die mittelschweren Fälle. Corona-Patienten, deren Symptome eher leicht sind, werden stattdessen in Hotels geschickt. Kranke, deren Zustand sich rapide verschlechtert, kommen auf die Intensivstation. Für diese Fälle stehen 18 Betten bereit.

Bislang starben im Hospital Penna zehn ihrer Patienten an Corona, schildert Salomón. Meist ältere Menschen, aber letztlich kann es jeden treffen: »Wir hatten auch einen 34-Jährigen, der keine Vorerkrankungen hatte«, erinnert sich die Ärztin. Nur sein Übergewicht machte ihn zu einem Risikopatienten. »Das Virus ist wirklich schwer einzuschätzen und der Krankheitsverlauf nur schwierig vorherzusehen«, beschreibt Salomón. Bei 80 Prozent aller Corona-Infizierten komme es lediglich zu leichten Symptomen. Bei 20 Prozent gebe es mittlere und schwerere Formen. In drei bis fünf Prozent der Fälle verlaufe die Viruserkrankung tödlich.

Die allgemeine Quarantäne, die der linksperonistische Präsident Alberto Fernández bereits im März verhängte und im Großraum Buenos Aires in mehrfach modifizierter Form immer noch gilt, hält die Ärztin im Kern für richtig: »Vom medizinischen Standpunkt her ist das sinnvoll - gerade in unserem Land, in dem Mittel und Ressourcen so unterschiedlich verteilt sind.«

Wie Salomón ausführt, mache die Coronakrise die Missstände und Versäumnisse im öffentlichen Gesundheitssystem deutlich. So war während der Amtszeit des marktliberalen Präsidenten Mauricio Macri (2015 bis 2019) das Gesundheitsministerium zu einem Sekretariat degradiert worden. Krankenhausbauten wurden nicht vollendet. Jetzt mussten im Eiltempo provisorische Hospitäler aus dem Boden gestampft werden.

Andererseits zeige die Pandemie nach Einschätzung der Medizinerin aber auch, dass ein öffentliches Gesundheitssystem notwendig sei: »Ein rein privates System würde das nicht leisten können.« Durch den aktuellen Fokus der Medienberichterstattung sei vielen Menschen bewusst geworden, wie schlecht die Beschäftigten im Gesundheitsbereich bezahlt würden. »Im Vergleich zu den Ärztegehältern in Deutschland ist der Job hier ja fast ein Ehrenamt«, bemerkt die Ärztin leicht ironisch.

»Um gut zu verdienen, arbeiten viele parallel in zwei oder gar drei Krankenhäusern oder Arztpraxen.« Dies vergrößert aber auch das Risiko, das Virus zu verbreiten. Gleichwohl sei jetzt während der Krise nicht der richtige Moment, Gehaltsforderungen zu stellen, meint Salomón. Dies müsse stattdessen nach der Pandemie neu verhandelt werden.

Was die gegenwärtige Corona-Lage im argentinischen Winter betrifft, schätzt Salomón: »Ich denke, wir stehen in der bis jetzt schwierigsten Phase.« Andererseits könne man die strengen Ausgangsbeschränkungen im Großraum Buenos Aires auch nicht ewig aufrechterhalten. Denn sie bedeuten auf die Dauer Probleme in wirtschaftlicher und mentaler Hinsicht. »Wir steckten schon vor Corona in einer ökonomischen Krise. Dies verschärft sich nun noch einmal«, meint Salomón, die bereits bei der argentinischen Staatspleite 2001 einen Großteil ihrer damaligen Ersparnisse verloren hatte. Auf jeden Fall findet sie es gut, dass die Regierung derzeit gewaltige finanzielle Hilfsprogramme aufbietet, um den Bürgern über die Runden zu helfen.

Die Motivation in ihrem Team bezeichnet sie unter dem Strich als »schwankend«. Zwar sei man nun abgeklärter im Umgang mit der Seuche als zum Anfang. Andererseits bestehe die Sorge, an Kapazitätsgrenzen zu stoßen.

Mut machen der Ärztin aber Anekdoten wie diese: Unter den Patienten befand sich vor Kurzem ein Mann Mitte 60 aus General Güemes in der nordwestlichen Provinz Salta, wo Salomón als Tochter eines syrischstämmigen Arztes aufwuchs. Der Mann konnte berichten, dass sein Vater einst durch Carlotas Vater von Tuberkulose geheilt wurde. Nun kurierte die Tochter als Ärztin den Sohn. Die Welt ist manchmal ein Dorf - sogar in Buenos Aires.

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