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Der große Experimentierer
In Paris begann und vollendet sich das Werk von Christo - eine Ausstellung im Centre Pompidou
Die Ausstellung »Christo und Jeanne-Claude. Paris!« im Centre Pompidou sollte eigentlich Mitte März beginnen. Sie musste dann allerdings wegen der Coronavirus-Pandemie verschoben werden und ist nun seit Anfang Juli und noch bis Mitte Oktober zu sehen. In der Zwischenzeit ist der weltbekannte »Verhüllungskünstler« Christo am 31. Mai in New York gestorben. Er hatte jedoch noch intensiv an der Vorbereitung mitgewirkt, und die meisten Exponate stammen aus seinem Besitz.
Christo wollte keine Retrospektive, sondern eine Fokussierung auf die Jahre 1958 bis 1964, die er in Paris verbracht hat und die prägend für sein Lebenswerk waren. 1935 in Gabrowo in Bulgarien als Christo Wladimirow Jawaschew in der Familie eines Textilfabrikanten geboren, wurde sein künstlerisches Talent schon in früher Kindheit entdeckt und gefördert. 1953 bis 1956 hat er an der Kunsthochschule in Sofia studiert, doch der »Sozialistische Realismus« stieß ihn ab und er träumte von Paris, das seinerzeit noch die Welthauptstadt der Kunst war.
Während der Unruhen in Ungarn ging Christo 1956 zunächst nach Budapest und dann nach Prag, wo es ihm gelang, in einem Zug versteckt über die Grenze nach Österreich zu flüchten. In Wien studierte er ein Semester an der Kunsthochschule, bevor er einige Monate in Genf verbrachte und schließlich 1958 in seiner Traumstadt Paris ankam. Hier hat er in einer Dachkammer gelebt und gearbeitet und sich seinen Lebensunterhalt mit Porträts von Angehörigen großbürgerlicher Familien verdient. Die Bilder malte er ganz nach Wunsch des Auftraggebers in realistischer, impressionistischer oder kubistischer Manier. Was er von dieser Arbeit hielt, fasste er in die Worte: »Solche Porträts verhalten sich zur wirklichen Kunst wie Kriminalromane zur großen Literatur.«
Eines seiner zahlungskräftigen Modelle war die Frau von General Jacques de Guillebon, dem Direktor der Elitehochschule Ecole polytechnique. Dort lernte er deren Tochter Jeanne-Claude kennen, die sich in ihn verliebte und ihn gegen den Widerstand der Familie heiratete. Das Paar hat 50 Jahre lang, bis zu Jeanne-Claudes Tod im November 2009, zusammengelebt und -gearbeitet.
In Paris hat Christo nach dem Vorbild von Man Ray, der schon in den 1920er Jahren in dieser Richtung experimentierte, Gegenstände in Papier oder Stoff gehüllt und verschnürt, um ihnen so eine neue, rätselhafte Dimension zu gegeben. Er gab nie an, was sich in diesen »Empaquetages« befand, doch oft ließ es sich durch die Umrisse erraten - Flaschen, Konservendosen, ein Spielzeugpferd, ein Benzinkanister … Größere Bedeutung als der Inhalt hatte für den Künstler die taktile Struktur der Kunstwerke. Da wurde beispielsweise Papier zunächst zerknüllt und dann mit Lack versteift. Christo hat die verschiedenen Stoffe zudem mit farblosem Lack imprägniert und ihnen so eine dauerhafte Form gegeben.
Seine erste urbane Installation schuf er 1962 als Reaktion auf den Bau der Berliner Mauer im Jahr zuvor. Er blockierte die sehr enge Pariser Rue Visconti mit mehr als 90 leeren Ölfässern, die er zu einem »Eisernen Wall« türmte. Weil ihm die dafür beantragte Genehmigung durch die Behörden verweigert wurde, errichtete er den Fässerwall zusammen mit Freunden heimlich über Nacht. Sie mussten diesen jedoch angesichts der Drohungen der Polizei Stunden später wieder abbauen. Christo machte damals erste Erfahrungen mit bürokratischen Hierarchien, die ihm später bei vielen seiner Großprojekte das Leben schwer machen sollten. Geblieben sind die Entwürfe und die Fotos, wie auch später bei allen anderen seiner »kurzlebigen« Großprojekte.
In Paris gehörte Christo der von Yves Klein gegründeten Gruppe »Nouveau Réalisme« (Neuer Realismus) an, war mit Künstlern wie Niki de Saint Phalle und ihrem Mann Jean Tingguely befreundet. Nun wandte er sich endgültig der Objektkunst zu. In der Ausstellung im Centre Pompidou sind allerdings auch einige wenig bekannte abstrakte Gemälde zu sehen, bei denen er durch die Beimischung von Sand in die Farben eine »Dreidimensionalität« erreichte. Das eindrucksvollste Bild aus seinem Nachlass erinnert an eine bergige Mondlandschaft; es weist einige aufragende Vulkane mit schwarzem Krater auf.
Da Christo Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre den Eindruck hatte, dass sich das internationale Gravitationszentrum der zeitgenössischen Kunst von Paris nach New York zu verlagern begann, übersiedelten er und Jeanne-Claude 1964 in die USA. Mit Touristenvisa eingereist, lebten sie hier jahrelang als »Illegale«, bevor sie dank der künstlerischen Erfolge von Christo zunächst eine Aufenthaltsgenehmigung und später auch die US-Staatsbürgerschaft erhielten.
Von New York aus haben Christo und Jeanne-Claude ihre großen Projekte geplant und vorbereitet, von denen sich nur jedes dritte verwirklichen ließ, die sich aber trotzdem in 50 Jahren auf zwei Dutzend summierten. Diesen ging stets eine mehrjährige Vorbereitungsphase voraus, die eigentliche Schaffensperiode währte dann nie mehr als zwei Wochen. Zu seinen spektakulärsten Werken gehören die Stoffbahnen in einem Tal der Rocky Mountains 1971 sowie die Felder zeitgleich an der Westküste der USA sowie an der Ostküste Japans aufgespannter Sonnenschirme 1991, die Verhüllung des Berliner Reichstags 1995 und die »Floating Piers« 2016 im norditalienischen Iseo-See. Dort vermittelten 220 000 Plastikhohlkörper, die zu einem kilometerlangen, 19 Meter breiten und sich im Takt der Wellen bewegenden Steg zusammengefügt waren, den Besuchern das Gefühl, übers Wasser schreiten können. Dieses Kunstprojekt hatte Christo schon 1970 für die Mündung des Rio de la Plata in Argentinien geplant; es war aber von den Behörden abgelehnt worden, ebenso 1997 in der Bucht von Tokio.
Das für Christo persönlich wichtigste dieser Großprojekte war 1985 die Verhüllung der ältesten Pariser Brücke Pont Neuf. Damit wollte er das Ende des 16. Jahrhunderts errichtete Bauwerk, das über die Jahrhunderte unzählige Male für Bilder berühmter Maler »Modell« gestanden hatte, selbst zu einem Kunstwerk machen. Die Idee hierzu hatte er schon in seinen Pariser Jahren, wie in der reich bestückten Ausstellung dokumentiert ist. Gezeigt werden mehr als 300 Entwurfszeichnungen, Collagen und Ölbilder, die Christo in großer Zahl schuf und mit deren Verkauf er stets die Umsetzung seiner Projekte finanzierte - aber auch Stoffballen, Seile und Alpinistenzubehör, zahlreiche Fotos und nicht zuletzt ein Dokumentarfilm über die Vorarbeiten und die verschiedenen Phasen der Verhüllung.
Der Besucher erhält einen lebendigen Eindruck von den sehr unterschiedlichen Reaktionen der Pariser wie auch der Touristen angesichts der verhüllten Brücke sowie den behördlichen und medialen Widerständen in der mehr als zehnjährigen Vorbereitungsphase zu diesem Werk. Die Verhüllung der Pont Neuf war unter anderem durch Jacques Chirac jahrelang blockiert worden, den späteren französischen Präsidenten, der damals, 1977, wegen der eher konservativen Mehrheit der Hauptstädter um seine Wiederwahl zum Bürgermeister bangte. Den Durchbruch brachte 1981 die Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum ersten linken Präsidenten. Dessen Kulturminister Jack Lang hat ihn für das Projekt von Christo gewinnen können.
Dafür ging es umso rascher mit seinem letzten Großprojekt, dessen Realisierung er allerdings nicht mehr erlebte: die Verhüllung des Triumphbogens, der die Prachtavenue Champs-Élysées abschließt. Sie war für kommenden September geplant, ist aber wegen der Virusepidemie auf den Herbst 2021 verschoben. Diese Verkleidung des Arc de Triomph wird nach Christos Plänen durch das Team umgesetzt, das ihn über viele Jahre bei seinen verschiedenen Projekten begleitete. Entwurfszeichnungen für dieses Werk sind ebenfalls schon in seinen Pariser Jahren 1958 bis 1964 entstanden. Aber erst jetzt, kurz vor seinem Tod, konnte sich Christo der vollen Unterstützung der Behörden sicher sein.
»Christo et Jeanne-Claude. Paris!«, bis 19. Oktober, Galerie 2, Centre Pompidou, Paris. Derzeit gibt es auch eine Ausstellung in Berlin, die sich mit dem Künstlerpaar beschäftigt: »Christo and Jeanne-Claude: Projects 1963-2020«, bis 14. September, Palais Populaire, Unter den Linden 5.
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