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Aufholjagd der Klassen
HASSLIEBE: Fabian Hillebrand fremdelt mit der Kehrseite von Lohnschufterei
Sich über Touristen aufzuregen ist einfach. Umweltzerstörung, Schneekanonen im Sommer, Städte, die nur noch als Kulisse dienen und in der keine Einheimischen mehr wohnen, schließlich Corona und die berechtigte Sorge vor einem zweiten Ischgl: Die Liste der Argumente gegen den Tourismus in seiner jetzigen Form wird immer länger, je geringer der Abstand wird, den Ballermanngänger nach fünf Liter Sangria noch fähig sind, zum Nächsten einzuhalten.
Noch einfacher ist es nur, sich über diejenigen aufzuregen, die sich über Touristen echauffieren. Für die verhält es sich nämlich wie mit dem Mundgeruch: Touristen sind immer die anderen. Man selber ist Reisender in unerforschten Gefilden. Bloß nicht zur Masse gehören. Reisende häufen Sehenswürdigkeiten und Geschichten an, sie erhöhen damit ihr kulturelles und symbolisches Kapital. Dabei ist entscheidend, wohin man fährt. Auf keinen Fall auf den Ballermann. Kein Wunder, dass nun wieder mit erhobenem Zeigefinger auf die Insel gezeigt wird. Keine Frage, die Leute, die dort feierten, sind Idioten. Man wünscht sich nur, bestimmte Medien wären ähnlich laut, wenn Risikopatienten wieder zur Arbeit müssen oder die Fließbandproduktion wieder aufgenommen wird. Oder wenn Superbetuchte ihre Privatpartys in großen Lofts feiern. Aber auf Malle gibt es eben kein Verstecken. Zumindest seit sich nicht mehr nur die Schönen und Reichen den Urlaub auf der balearischen Insel leisten können und die Insel auch abwertend »Putzfraueninsel« genannt wird.
Die Verachtung der Pauschaltouristen entwertet ihren Sehnsuchtsort selber: Die Bewegung der aufzuholenden Klassen bringt ja erst die aufholenden Klassen dazu, ihnen nachzureisen. Daher wird es bald Bierbänke auf Bali geben und vielleicht einen Ballermann auf Bahrain.
In früheren Zeiten begaben sich die Sprosse adeliger Familien übrigens auf Grand Tour - eine Kulturreise durch Europa. Als dies auch für bürgerliche Familien ökonomisch möglich wurde, taten sie es den Adligen nach. Die »Westminster Review« fluchte daraufhin 1825: In Rom versammelte sich ein »Gemisch aller Klassen«: »Der Erste unseres Adels und der letzte unserer Bürger begegnen und berühren sich an jeder Ecke«.
Urlaub als ewige Aufholjagd der Klassen: Das ist ein interessantes sozialwissenschaftliches Forschungssujet - und zerstört den ganzen Planeten.
Was also tun? Es geht natürlich grundlegend darum, ein System umzukrempeln, in dem Urlaub nur die andere Seite der Lohnschufterei ist. Bis dahin würde es vielleicht helfen, öfter mal einfach nur die Beine hochzulegen. Schon im 18. Jahrhundert wurden diejenigen belächelt, die Landschaften und spektakuläre Ansichten vor allem besuchten, um sie in ihren Zeichenblöcken zu verewigen. Aber das ist nun wieder stumpfes Touristenbashing.
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