Durchhaltepolitiker
Hans-Jochen Vogel hatte oft mit Rückschlägen und Misserfolgen zu kämpfen. Seinen Weg nach oben behinderten sie nicht
Im vergangenen Jahr mag sich Hans-Jochen Vogel noch einmal wie ein Sieger vorgekommen sein. Da plädierte er öffentlich für eine Doppelspitze aus Frau und Mann. Und siehe da, es folgte ein Kandidatenrennen aus lauter Doppelspitzen, und mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans setzte sich am Ende eine solche in der SPD auch durch. Dabei war dies eigentlich ganz und gar kein typischer Zwischenruf für Hans-Jochen Vogel, den damals bereits 93-Jährigen, der eher als Konservativer in seiner Partei gelten muss. Auch auf die Grünen zuzugehen, das Vorbild aller Doppelspitzen, war ihm als Parteivorsitzenden zunächst - Anfang der 90er Jahre - nicht leichtgefallen. Da war Vogel zugleich Fraktionschef der SPD im Bundestag und hatte mit Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder bissige Kontrahenten auf den Fersen. Rot-Grün näherte er sich um Einiges zurückhaltender als die beiden damaligen Heißsporne. Vogel, dessen Bruder Bernhard eine ebenfalls vorzeigbare Karriere bei der CDU absolvierte, hatte einst als jüngster Oberbürgermeister einer europäischen Großstadt seinen Genossen deshalb den Rücken gekehrt, weil sie ihm zu links waren. In den gesellschaftspolitischen Disputen der Sozialdemokratie vertrat Vogel später die Positionen des rechten Seeheimer Kreises. Meinungsunterschiede mit Bruder Bernhard führten hingegen nie zu ernsten Differenzen. Man habe sich immer einigen können, bekundete Vogel.
Am Sonntag ist Hans-Jochen Vogel gestorben, und als Mann, der ehern für sozialdemokratische Werte wie für soziale Gerechtigkeit stand, wird er nun gewürdigt. Auch von seinen politischen Gegnern ist nur Gutes zu hören. Abseits der politischen Etikette, die zu solcher Gelegenheit angemessene Zurückhaltung verlangt, klingt da nicht nur Höflichkeit an. Er habe mit seiner ganzen Person dafür eingestanden, was er vortrug, erinnert sich Norbert Lammert, der langjährige Bundestagspräsident, des besonderen Charakters. Womöglich liegt hier ein Dilemma, das nicht nur Vogel prägte, sondern bis heute auch seine Partei. Zwischen den verkündeten Grundsätzen und den realen Folgen sozialdemokratischer Politik liegen zuweilen Welten. Je überzeugter die Grundsätze vorgetragen werden, desto tiefer wirkt die Kluft.
Dass Vogel unter dem zunehmend schlechten Ansehen der Sozialdemokratie litt, ist glaubhaft überliefert. Regelmäßig konfrontierte er noch in hohem Alter die Parteiführung schriftlich mit seinen Ratschlägen. Auch unter dem Appell von neun ehemaligen Parteivorsitzenden der SPD im vergangenen Jahr stand seine Unterschrift. Diese äußerten sich »in sehr großer Sorge um unsere Partei«. Der Brief wirkte allerdings wie eine Empfehlung zum »Weiter so«: »Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat dieses Land wesentlich mitgestaltet und tut dies immer noch. Das ist auch Euer Verdienst. Und deshalb rufen wir Euch auf: Seid stolz auf das Erreichte! Denn nur wer von sich selbst überzeugt ist, kann auch andere überzeugen.« Wovon überzeugen? Stolz auf das Erreichte kann eine Partei schwerlich sein, der die Wähler den Rücken kehren.
Über allem stand Vogels Identifizierung mit diesem Staat, nicht der Wille zu seiner Reformierung. Das eigene Gewicht wusste er selbstbewusst zu nutzen. Als Partei- und Fraktionschef führte Hans-Jochen Vogel ein strenges Regiment. Strategische Visionen waren hingegen nicht sein Ding. Und auch als Gast auf Parteitagen, auf denen die SPD ihre Agendareformen unter Kanzler Gerhard Schröder beschloss oder auf späteren, als sie deren Folgen in Form eines anhaltenden Wählerschwundes auszubaden hatte, beließ es Vogel bei vehement vorgetragenen Aufrufen zu Disziplin und Geschlossenheit.
Vogel war selbst ein Durchhaltepolitiker. Er hielt durch, wenn es eng wurde, oder sprang ein, wenn andere die absehbaren Blessuren scheuten, die ein Einsatz erwarten ließ. Vogel wurde nach dem Scheitern der sozialliberalen Koalition und vorgezogener Neuwahl 1983 Kanzlerkandidat der SPD, als Kanzler Helmut Schmidt vor dem Risiko zurückschreckte. Als in Berlin 1981 die SPD nach einer Führungskrise und dem Rücktritt des amtierenden SPD-Regierungschefs nach Ersatz suchte, eilte Vogel herbei und übernahm. Die Wahl nur wenige Monate später verlor er gegen Richard von Weizsäcker.
Ein demonstrativ erhobenes Haupt war Vogels Markenzeichen, mit markiger Stimme selbstbewusst vorgetragene Positionen sorgten für nachhaltigen Eindruck. Doch die Autorität, die er erwarb, musste sich ständig gegen Misserfolge behaupten. Und das tat sie. Als Erfolg seiner Münchner Oberbürgermeisterzeit von 1960 bis 1972 galten die Olympischen Spiele, die er nach München geholt hatte. Es sind jene Spiele, die vor allem wegen des Attentats auf elf israelische Athleten in Erinnerung geblieben sind. Wenig später trat Vogel als Spitzenkandidat zur Landtagswahl an - und verlor. Es folgte Vogels Zeit als Minister der Regierung Willy Brandts und die gescheiterte Kanzlerkandidatur. Doch immer ging es irgendwie bergauf.
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