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Der Traum von der Eisenbahn
Nur mit einer schnellen Verbindung nach Berlin kann die Havelstadt Ketzin wachsen
»Wo die Havel bläulich fließt/wo die grünen Wiesen blühen/wo die Dampfer langsam fahren/da liegt unsre Stadt Ketzin.« Diese Heimatlyrik ist an der Wand des Bürgersaals von Ketzin/Havel zu lesen. 6659 Seelen zählte das Städtchen im Havelland mit allen Ortsteilen zur Jahresmitte 2020. »Damit sind wir deutlich über den Prognosen der Landesregierung«, sagt Bürgermeister Bernd Lück (FDP) triumphierend. Denn jede Bevölkerungsprognose des Landes in den letzten 15 Jahren ging von sinkenden Zahlen aus. Laut jener von 2005 dürften nur noch 5700 Menschen dort wohnen.
Lück, der im vergangenen Jahr in die dritte Amtszeit gewählt worden ist, stemmt sich gegen das Sterben des Ortes. Offenbar erfolgreich. Die Immobilienpreise haben sich seit 2015 verdreifacht, was sehr deutlich für wachsendes Interesse spricht. Das liegt vor allem daran, dass angesichts der inzwischen hohen Preise im Berliner Umland die Leute schauen, wo sie sich noch ein eigenes Haus leisten können.
Immobilien in Ketzin waren lange sehr günstig, weil das Städtchen im toten Winkel liegt. Richtung Süden bildet die Havel eine Barriere, die nur mit der Fähre überwunden werden kann. Nach Osten, gen Potsdam, führen nur schlecht ausgebaute Landstraßen, das gleiche gilt für die Fahrt nach Norden, Richtung Nauen. Entsprechend langwierig und unattraktiv sind auch die Busverbindungen. Fast eine Stunde dauert es nach Potsdam - wenn nicht allzu viel Stau ist. Seit letztem Jahr kommt man mit einer neuen Buslinie über Wustermark mit Umstieg in den Regionalexpress immerhin in rund 70 Minuten zum Berliner Hauptbahnhof. Über Nauen dauert es 20 Minuten länger.
Näher an Berlin kommen
Bürgermeister Lück möchte, dass seine Stadt verkehrlich noch näher an Berlin rückt. Dafür soll die Eisenbahn reaktiviert werden. Von Ketzin mit Umstieg in Wustermark wäre der Hauptbahnhof der Hauptstadt in 50 Minuten zu erreichen.
Vor fast 60 Jahren wurde der Personenverkehr auf der 16 Kilometer langen Strecke der einstigen Osthavelländischen Kreisbahnen von Nauen nach Ketzin eingestellt. Bis heute gibt es noch Güterverkehr auf einem Abschnitt von Wustermark bis zu einem Gewerbestandort nördlich des Städtchens. Geschätzt 15 Millionen Euro würde eine Reaktivierung kosten, wie eine Machbarkeitsuntersuchung der Beratungsfirma Innoverse des Eisenbahnexperten Hans Leister ergibt. Denn obwohl rund sechs Kilometer Strecke ab dem Anschlussgleis Mosolf bis zum alten Ketziner Bahnhof neu gebaut werden müssten, gibt es einen Riesenvorteil: Nach wie vor ist sie rechtlich als Eisenbahninfrastruktur gewidmet. Langwierige Planfeststellungsverfahren wären nicht nötig, eine bürokratisch wesentlich einfachere sogenannte Plangenehmigung würde reichen. Der Stadtrat von Ketzin ist dafür, der Kreistag des Havellandes hat sich im Juni ebenfalls einstimmig für eine Reaktivierung ausgesprochen.
»Der Klimaschutz ist ein wichtiger Punkt. Am Ende geht es darum, dass wir schauen müssen, wie wir CO2 einsparen«, sagt Brandenburgs Verkehrsminister Guido Beermann (CDU) im Bürgersaal. Er ist auch an diesem Mittwochnachmittag gekommen. »Es ist sonst nicht üblich, dass der Minister zu Veranstaltungen der demokratischen Opposition geht«, lobt das Christian Görke. Die Veranstaltung ist eigentlich eine Station auf der Sommertour des verkehrspolitischen Sprechers der Linksfraktion im Brandenburger Landtag. Auch Landtagskollegin Andrea Johlige ist daher gekommen, und sogar die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg (beide Linke) hat den Weg in das Havelstädtchen gefunden.
Bürgermeister Bernd Lück ist in seinem Element. Dass keiner der beiden Laserpointer, die er dabei hat, funktionieren, irritiert ihn nur kurz. Zwei große Wohnungsbauprojekte in der Kernstadt könnten deren Bevölkerungszahl in den nächsten Jahren von derzeit knapp 3600 um über die Hälfte auf rund 5500 hochschrauben. Auf der Baumschulenwiese will ein Potsdamer Investor 225 Wohnungen errichten. »Da ist alles dabei - von Sozialwohnungen bis zu integrativem Wohnen«, berichtet Lück. Mit den ersten Baugenehmigungen rechnet er noch in diesem Jahr. Rund 500 Wohnungen will die Immobilientochter der österreichischen Sparkasse auf dem Gelände der stillgelegten Zuckerfabrik errichten, dazu ein Kurhotel, eine Schule und eine Kita. »Wenn alles gut geht, haben wir dort noch vor Falkensee auch eine Schwimmhalle«, so Lück. Ende Dezember hat der dortige Stadtrat das Projekt gekippt. Seit der Wende hat Falkensee seine Einwohnerzahl auf nun knapp 44 000 verdoppelt.
Der Verkehrsminister ist zurückhaltend
Er habe die Studie zur Eisenbahnreaktivierung gelesen, sagt Verkehrsminister Beermann. »Es ist eine Henne-Ei-Diskussion, gerade bei der Reaktivierung von Eisenbahnstrecken«, fügt er hinzu. Auf der letzten Seite steht nämlich, dass in der Startphase der Bahnverbindung »nur von einer täglichen Nutzerzahl von etwa 400 Personen auszugehen« sei. Eine Größenordnung, die bisher Eisenbahnstrecken eher zu Stilllegungskandidaten gemacht hat. Allerdings sei damit zu rechnen, »dass sich diese Zahl innerhalb von einigen Jahren mindestens verdoppelt, wenn nicht vervielfacht«, heißt es weiter. Dem Nutzen-Kosten-Vergleich müsse man sich stellen, erklärt Beermann. »Wir werden uns die Zahlen ganz genau angucken, die Diskussion gerne weiterführen«, verspricht er.
Linke-Verkehrsexperte Görke wertet die vorsichtigen Äußerungen des Ministers als Erfolg. »Ich habe keine Abmoderation der Landesregierung für das Projekt RB32 gehört«, stellt er zufrieden fest. Görke, der bis 2019 als Finanzminister der rot-roten Koalition noch das Geld zusammengehalten hat, hebt hervor, dass bis zu 90 Prozent Förderung durch den Bund möglich sind. Die Fördermittel werden dieses Jahr auf rund 665 Millionen verdoppelt und sollen auch in den nächsten Jahren deutlich ansteigen. Görke setzt sich für weitere Streckenreaktivierungen ein, unter anderem die Eisenbahnstrecke von Werneuchen nach Wriezen im Landkreis Märkisch-Oderland oder den westlichen Abschnitt der Brandenburgischen Städtebahn zwischen Treuenbrietzen, Bad Belzig und Brandenburg an der Havel.
Raus aus der Todeszone
Landrat Roger Lewandowski (CDU) hebt das Entwicklungspotenzial der Strecke hervor, die zwei Baugebiete, sowie die beiden Logistikunternehmen Hermes und Mosolf mit 600 Beschäftigten. Bürgermeister Lücks Ziel ist es, dass seine Stadt in die Kategorie »Berliner Umland« in der Landesplanung umgestuft wird. Rein geografisch ist das nicht abwegig. Wegen der bisher schlechten Anbindung gehört Ketzin allerdings zum »weiteren Metropolenraum«, einer Art Todeszone für die Entwicklung, denn für neue Baugebiete gibt es deutliche Restriktionen. Mit der Bahnanbindung könnten die Karten neu gemischt werden.
Zumindest im Kernort Ketzin ist die Zustimmung zur Reaktivierung groß. »Alle betroffenen Grundstückseigentümer sind dafür«, versichert Norman Schubert, dem das Bahnhofsgelände gehört. Weitere Flächen für einen Park-and-Ride-Platz und die verbesserte Anbindung müsste hinzugekauft werden. Im Ortsteil Etzin kann sich wohl nicht jeder für die Eisenbahn erwärmen, weil die Strecke mittendurch führt.
Der Brandenburger Landesvorsitzende des Deutschen Bahnkundenverbands ist eher skeptisch. »Es ist wünschenswert, Strecken zu reaktivieren. Aber ich möchte erst mal die Projekte aus dem Eisenbahn-Infrastrukturprogramm i2030 abgearbeitet wissen«, sagt Michael Wedel zu »nd«. Dazu gehören der Ausbau der Eisenbahnstrecke von Berlin nach Nauen, eine mögliche Wiederinbetriebnahme der Stammbahn von Berlin über Steglitz und Dreilinden nach Potsdam oder die Wiederinbetriebnahme der Heidekrautbahn zwischen Basdorf und Berlin-Wilhelmsruh. »Diese Projekte kosten schon alle ein Schweinegeld, allerdings profitieren sehr viel mehr Menschen. Ich habe Angst, dass wir uns sonst verzetteln«, so Wedel.
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