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Generalstaatsanwaltschaft übernimmt in Neukölln
Die Aufklärung des jahrelangen rechten Terrors in Neukölln wurde wohl von mindestens einem zuständigen Staatsanwalt aktiv verhindert
Der Neukölln-Komplex hat Ausmaße erreicht, die Opfer des jahrelangen rechten Terrors befürchtet haben. »Unsere Beschwerde hat offensichtlich doch etwas gebracht«, sagt Ferat Kocak am Donnerstagvormittag zu »nd«. Der Linke-Politiker ist einer der bekannten Betroffenen der rechten Anschlagsserie, die seit nunmehr fast zehn Jahren im Bezirk Neukölln grassiert: Schmierereien, Drohbriefe, eingeschlagene Scheiben, Brandanschläge – allein für die Jahre 2016 und 2017 zählte die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) 55 Fälle. Nach früheren Angaben rechnet die Polizei der Serie 72 Fälle zu, darunter 23 Brandstiftungen. Überführt werden konnten die Brandstifter aber nicht. Die Polizei geht von insgesamt drei Verdächtigen aus.
Nach Brandanschlägen Anfang 2018 auf die Autos von Kocak und eines Buchhändlers hatte die Polizei Wohnungen von Rechtsextremisten durchsucht. Einer von ihnen ist der mehrfach vorbestrafte Sebastian T., der 2013 Bezirksvorsitzender der Neuköllner NPD war. Nach dem Fund einer Feindesliste auf der Festplatte des Neonazis Anfang Januar 2020 mehrte sich Kritik an den Sicherheitsbehörden. Auch die Landesvorsitzende der Linksfraktion, Anne Helm, wurde darüber informiert, dass sie bereits seit 2013 auf dieser Liste des Hauptverdächtigen der rechten Terrorserie in Neukölln steht.
Nach Jahren blockierter Aufklärung könnte nun Bewegung in den Komplex kommen. Die Berliner Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hatte am Mittwoch bekanntgegeben, sämtliche Ermittlungsverfahren zu übernehmen, in denen es um Straftaten gegen Menschen gehe, die sich in Berlin-Neukölln gegen Rechtsextremismus engagierten. Grund ist der Verdacht, dass zwei Staatsanwälte, die beide für die Ermittlungen der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln zuständig waren, möglicherweise befangen gewesen sein sollen, wie es in einer Pressemitteilung heißt.
Zwei Verdächtige aus der rechtsextremen Szene sollen in mindestens einem protokollierten Gespräch über einen Staatsanwalt gesagt haben, dass er nach eigenen Äußerungen der AfD nahe stehe und man von ihm nichts zu befürchten habe, erklärte Koppers. Ausgangspunkt der Überprüfung der bisherigen Ermittlungen durch die Generalstaatsanwaltschaft war die Beschwerde einer Opferanwältin. Bei der internen Prüfung der Ermittlungsunterlagen stieß ein Mitarbeiter eher zufällig auf Aussagen, aus denen sich der Verdacht der Befangenheit ergab.
Nach Aussage von Margarete Koppers habe es nach der Prüfung durch die Generalstaatsanwaltschaft eine Anhörung gegeben. Im Ergebnis soll einer der Staatsanwälte um Versetzung gebeten haben, der zweite sollte umgesetzt werden.
»Wir haben die Beschwerde eingelegt, weil wir immer nur mit unbrauchbaren Aktenteilen abgespeist worden«, berichtet Rechtsanwältin Franziska Nedelmann gegenüber »nd«.
Dazu sei gekommen, dass die Information, dass möglicherweise mindestens einer der nun versetzten Staatsanwälte in den Neukölln-Komplex involviert ist, anhand eines Auswertungsberichts polizeilicher Nachrichtenüberwachung bereits seit September 2019 bekannt gewesen sei. »Da muss man sich schon wundern, warum der Staatsanwalt, der eine solche Auswertung liest, in der sein Chef erwähnt wird, nicht sofort aktiv wird«, meint Nedelmann. Bei dem im Nachrichten-Chat der rechten Verdächtigen erwähnten Staatsanwalt handele es sich, so die Anwältin, um keinen Unbekannten. Matthias Fenner trete in Prozessen mitunter so tendenziös auf, dass kein Zweifel an seiner politischen Haltung bestehen könne, sagt Nedelmann.
So fordere er beispielsweise in Prozessen, in denen Antifaschist*innen im Zuge von Protesten gegen rechte Parteien Straftaten vorgeworfen werden, hohe Strafen, spreche sich andererseits in Verfahren wegen rassistischer Beleidigung für deren Einstellung aus. »Ich bin überhaupt nicht überrascht über die Erkenntnisse«, sagt Nedelmann. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft zeigte sich gegenüber diesem Vorwurf irritiert: »Uns ist davon nichts bekannt«, heißt es auf nd-Anfrage.
Die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus will den Vorgang im kommenden Rechtsausschuss behandeln. Es gelte unter anderem zu klären, wie diese Aussage des Überwachten so lange übersehen werden konnte, teilte der Justizexperte Sebastian Schlüsselburg dazu mit.
»Wenn auch nur irgendetwas an den Vorwürfen dran ist, ist es ein handfester Justizskandal«, ist sich auch der innenpolitische Sprecher Niklas Schrader gegenüber »nd« sicher. »Aber es ist auch ein Polizeiskandal«, fügt Schrader hinzu. Hatte doch die Polizei für den Fall Neukölln erst vor etwas über einem Jahr eine spezielle Fahndungseinheit, die »Besondere Aufbauorganisation (BAO) Fokus« eingerichtet. »Die Arbeit der BAO Fokus ist grandios gescheitert«, meint Schrader. Wenn eine derart brisante Information vorläge, müssten bei Beamt*innen »doch alle Alarmglocken schrillen«, zeigt sich der Neuköllner Abgeordnete fassungslos.
Für Schrader wie auch für Ferat Kocak ist damit die Einrichtung eines unabhängigen Untersuchungsausschuss nur folgerichtig. »Seit Jahren werden wir von den Behörden nicht ernst genommen. Wir brauchen diesen Ausschuss, wenn wir herausfinden wollen, wie groß dieser Komplex wirklich ist«, sagt Kocak zu »nd«. Man habe sich seitens der Betroffenen bisher nur auf die Sicherheitsbehörden und auf die Polizei konzentriert, dass auch die Staatsanwaltschaft involviert sein könnte, übertreffe alle Erwartungen.
Gleichzeitig läuft der rot-rot-grünen Koalition an diesem Punkt angesichts der in einem Jahr zu Ende gehenden Legislatur die Zeit weg. Möglicherweise ist die Ernennung eines Sonderermittlers in der Angelegenheit, wie ihn Anne Helm zuletzt gefordert hatte, aus diesem Grund sinnvoller, meint auch ihr Abgeordnetenkollege Schrader.
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