- Berlin
- Tag der Freiheit
Keine Abgrenzung zu Antisemiten
Berliner Politiker fordern, dass die Proteste gegen die Corona-Regeln verboten werden.
Waren es jetzt 1,3 Millionen oder doch nur 20 000? Viel wurde gestritten über die Zahl der Teilnehmer*innen an den verschwörungsideologischen Protesten mit extrem rechter Schlagseite am vergangenen Wochenende. Dass Quantität auch in Qualität umschlagen kann, haben andere bereits entdeckt. Doch muss man sich bei den Veranstaltungen nur die Qualität der Aussagen ansehen, um zu erschrecken: »Statt Distanzierung und einer Absage an Antisemitismus und Rechtsextremismus boten die Versammlungen für ebensolche Artikulation den öffentlichen Raum«, schreibt die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, kurz: RIAS, in einem Bericht, den sie am Donnerstag veröffentlicht hat. Insgesamt zählt sie elf konkrete Fälle von Antisemitismus bei der Demonstration durch den Berliner Bezirk Mitte mit anschließender Kundgebung vor der Siegessäule.
»Darüber hinaus wurden vielfach an Antisemitismus anschlussfähige Inhalte verbreitet«, ergänzen die Expert*innen, die bundesweit judenfeindliche Vorfälle dokumentieren. So waren bei der Demonstration zahlreiche Flaggen des Deutschen Reichs zu sehen. Der sogenannte Judenstern wird schon seit den »Hygiene-Demos« im Frühjahr immer wieder von den selbst ernannten Corona-Rebellen missbraucht, um sich als angebliches Opfer eines ungeheuerlichen Systems zu stilisieren. Dabei stellen sie sich mit neuen Inschriften wie »Ungeimpft« auf eine Stufe mit Jüd*innen während der NS-Gewaltherrschaft und relativieren so den Holocaust.
Der zweifelhaften Kreativität sind derweil kaum Grenzen gesetzt. Aufsehen erregte auch das Transparent zweier Teilnehmer*innen mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz, dessen Balken aus einem Mundschutz, einer Spritze, einer Überwachungskamera und einer Kreditkarte bestanden. In einem Video sagt eine*r der beiden: »Es hat ja damals auch nicht gleich mit Vergasung von Juden angefangen.« Die krude Parallele zwischen den Anfängen der Nazizeit und der heutigen Coronakrise ist bewusst gezogen.
Nicht alle antisemitischen Vorfälle bleiben so unspezifisch: Am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma wurden Gegendemonstrant*innen angebrüllt: »Ihr seid die Geiseln der Juden!« Bereits einen Tag vor der großen Demonstration wurde ihre Route geändert, um antisemitische Übergriffe möglichst zu verhindern. Zunächst sollte der verschwörungsideologische Aufmarsch am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und an der Synagoge an der Oranienburger Straße entlanggehen, wo zeitgleich der Schabbat-Schacharit-Gottesdienst stattfand. Im Vorfeld hatten dies nach Informationen von RIAS die Rabbinerin der Synagoge und der Antisemitismusbeauftragte der jüdischen Gemeinde kritisiert.
Die Debatte um den Aufmarsch beschäftigt auch die Berliner Innenpolitik. »Die Demonstration hat bundesweit Diskussionen ausgelöst - zu Recht«, sagt Frank Zimmermann zu »nd«. »Es gab Verstöße gegen die Auflagen, eine massive Behinderung der Presse, leicht verletzte Polizisten«, so der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Zimmermann meint, dass man zunächst die Versammlungsfreiheit hatte gewähren müssen. Nun lägen jedoch ganz andere Erfahrungswerte vor. »Wir sollten strenge Auflagen und gegebenenfalls eine Untersagung prüfen.«
Die Polizei benennt die Vorfälle unterdessen nicht explizit. Die Behörde teilt lediglich mit, dass 133 Personen festgenommen und 89 Strafermittlungsverfahren sowie 36 Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet wurden. Mit eingerechnet ist hiebei allerdings auch eine linke Demonstration, die ebenfalls am vergangenen Samstag stattfand. Auf nd-Anfrage bestätigt Polizeisprecher Martin Halweg die eingeleiteten Verfahren: »Sie sind erheblich.« Er zählte bei der Demonstration am Mittag sowie bei der Versammlung auf der Straße des 17. Juni vier Widerstandshandlungen, zwei tätliche Angriffe auf Polizeibeamt*innen und sieben Körperverletzungen, davon sechs gefährliche. Hinzu kommen zwei Anzeigen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz und eine wegen Hausfriedensbruch. Lediglich eine Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole wurde aufgenommen. Das wirkt angesichts des Aufzugs wenig. »Die Masse an Festnahmen hatten wir am Abend«, ergänzt Halweg. Konsequent durchgegriffen hat die Polizei also eher bei der linken Veranstaltung als beim Querfront-Aufmarsch.
Das wird auch kritisiert. »Verfassungsfeindliche Symbole wurden gezeigt, entsprechende Äußerungen getätigt«, sagt Niklas Schrader (Linke) zu »nd«. Es müsse konsequenter gegen rechte Straftaten aus der Demo vorgegangen werden. »Hier war die Eingriffsschwelle hoch, anders als wir es bei Demos der linken Szene kennen«, kritisiert er das Vorgehen der Polizei. Er pocht zudem auf einen angemessenen Gesundheitsschutz. Auflagen dazu müsse man auch umsetzen können: »Sonst verkommen sie zur Farce.«
Derweil muss man davon ausgehen, dass der vergangene Samstag für die Organisator*innen ein voller Erfolg war. Sie haben jedenfalls bereits eine neue Demonstration angemeldet - mit der gleichen Route und ebenjener Personenzahl, die die Polizei für den 1. August angegeben hat. Auch die Abschlusskundgebung soll wieder auf der Straße des 17. Juni stattfinden. Hinzu kommt eine Kundgebung aus der sogenannten Reichsbürgerszene. Die Aufrufe kursieren schon im Netz. Einigen ist das nicht genug: Sie wünschen sich einen Sturm auf den Reichstag. Gründe für ein Demoverbot gibt es also genug.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!