- Politik
- Belarus
Nach Protestnacht: 3000 Verhaftete in Belarus
Schwere Ausschreitungen und Polizeigewalt in der Nacht in Minsk / Proteste und Siegesfeiern der Opposition in anderen Städten
Minsk. Nach blutigen nächtlichen Ausschreitungen im Zuge der Präsidentenwahl in Belarus (Weißrussland) hat sich die Lage im Land vorübergehend beruhigt. Die Menschen seien am frühen Montagmorgen nach Hause zurückgekehrt, auch in der Hauptstadt Minsk sei es ruhig, meldeten Staatsmedien. In sozialen Netzwerken kündigten Aktivisten neue Proteste an, um gegen Wahlfälschung und gegen einen angeblichen Sieg von Staatschef Alexander Lukaschenko zu demonstrieren.
Der hat nach offiziellen Angaben vom Montagmorgen mit überwältigender Mehrheit die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Wie die staatliche Nachrichtenagentur Belta unter Berufung auf die Wahlkommission berichtete, kommt Lukaschenko laut dem vorläufigen Ergebnis auf 80,2 Prozent der Stimmen. Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die das Ergebnis anzweifelt, bekam demnach 9,9 Prozent der Stimmen.
Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat Lukaschenko am Montagmorgen zum Rückzug aufgefordert und sich selbst zur Wahlsiegerin erklärt. Die Regierung müsse darüber nachdenken, «wie sie die Macht friedlich an uns übergeben kann», sagte Tichanowskaja am Montag vor Journalisten in Minsk. «Ich betrachte mich selbst als die Gewinnerin dieser Wahl.»
In mehreren Wahllokalen, in denen es keine Wahlfälschung gegeben haben soll, gewann sie nach Angaben ihres Stabs haushoch. Einzelne örtliche Wahlkommissionen traten am Abend vor die Menschenmengen und verkündeten Ergebnisse, nach denen Staatschef Lukaschenko eine schwere Niederlage erlitten habe. Teils kam Tichanowskaja demnach auf zwischen 80 bis 90 Prozent der Stimmen. «
»Es kann keine Anerkennung eines solchen Wahlergebnisses geben«, sagte Sprecherin Anna Krasulina der Deutschen Presse-Agentur. Es sei damit zu rechnen gewesen, dass die staatlichen Prognosen Lukaschenko rund 80 Prozent der Stimmen zuschreiben würden. »Das ist fern jeder Realität.«
Auf den Straßen in Minsk und anderen Städten der Ex-Sowjetrepublik, die zwischen dem EU-Mitglied Polen und Russland liegt, war es in der Nacht zu schweren Zusammenstößen von Sicherheitskräften mit Bürgern gekommen. Nach Angaben von Beobachtern sollen sich in der Hauptstadt bis zu 100.000 Menschen an den Demonstrationen beteiligt haben. Auf Videos war etwa zu sehen, wie Demonstranten aus Müllcontainern Barrikaden errichteten.
Menschenmassen zogen durch die Straßen - auch in anderen Städten des Landes. In den sozialen Netzwerken wurden immer wieder Szenen veröffentlicht, wie Polizisten brutal auf Menschen einprügelten. Aber auch Demonstranten attackierten Polizisten, um Festnahmen zu verhindern. Einige bewarfen die Einsatzkräfte mit Flaschen und Steinen. Es gab viele Bilder von blutüberströmten Menschen. Wie viele Bürger verletzt wurden, war zunächst nicht bekannt.
Lukaschenko hat am Montag die Demonstranten als vom Ausland ferngesteuerte »Schafe« bezeichnet. Die Behörden hätten Demonstranten abgehört und »Anrufe aus dem Ausland aufgezeichnet«, sagte Lukaschenko laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta am Montag bei einem Treffen mit dem Leiter einer Wahlbeobachtermission aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Der seit 26 Jahren mit harter Hand regierende Staatschef kündigte zudem an, er werde nicht zulassen, dass das Land »auseinandergerissen« werde.
Lettlands Regierungschef Krisjanis Karins hat Zweifel an dem von der Wahlleitung bekanntgegebenen Ergebnis der Präsidentenwahl im benachbarten Belarus geäußert. Die aktuellen Ereignisse zeugten davon, dass sich darin nicht die öffentliche Meinung widerspiegele, schrieb der Ministerpräsident des baltischen EU-Landes am Montag auf Twitter. Es sei »ganz offenkundig«, dass bei der Wahl am Sonntag »die Mindeststandards für demokratische Wahlen nicht eingehalten wurden«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Die Berichte über Wahlfälschung seien »glaubhaft«. Die Bundesregierung habe »große Zweifel« an der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Belarus, so Seibert.
Gab es ein Todesopfer?
Ein junger Mann sei von einem Polizeiauto angefahren worden und habe eine schwere Kopfverletzung erlitten, teilte die Menschenrechtsorganisation Viasna am Montag mit. Sanitäter hätten sein Leben nicht mehr retten können. Dutzende weitere Menschen wurden demnach verletzt, als die Polizei mit Schockgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vorging. Auf Videos waren im Gesicht blutende Schwerverletzten zu sehen.
Bei den Protesten gegen den Ausgang der Präsidentenwahl in Belarus hat es landesweit mehr als 3000 Festnahmen gegeben. Das teilte das Innenministerium Medien zufolge in der Hauptstadt Minsk am Montag mit. Es seien zudem fast 100 Verletzte auf beiden Seiten - bei den Sicherheitsorganen und den Bürgern - gezählt worden, hieß es. »Wir haben keinen Toten«, sagte eine Sprecherin AFP. Es ist aber unklar, ob die Behörden in dem autoritär geführten Land die Wahrheit sagten. In den sozialen Netzwerken gab es Bilder von einem leblosen Körper. Das Innenministerium bestätigte den Einsatz von Spezialtechnik und Blendgranaten gegen die Demonstranten.
Internet im Land gestört
In einzelnen Orten kam es auch zu ersten Siegesfeiern für die Oppositionskandidatin. Die Menschen riefen die Uniformierten auf, sich dem Wählerwillen zu beugen und dem Volk anzuschließen. In einzelnen Ortschaften habe die Polizei kaum Widerstand leisten können gegen die Menschenmengen, berichteten oppositionsnahe Portale im Internet, das landesweit zeitweise nicht funktionierte.
Vor den Wahllokalen hatten sich am Sonntag teils lange Warteschlangen gebildet. Nach Angaben der Wahlkommission stimmten 84 Prozent der Wahlberechtigten ab. Schon am Wahltag und in den Wochen davor gab es viele Festnahmen. Von Lukaschenko gab es zunächst keine Reaktion. Der als »letzter Diktator Europas« bezeichnete Alexander Lukaschenko kämpft nach mehr als 26 Jahren an der Macht um eine sechste Amtszeit. Er hat damit gedroht, notfalls auch die Armee gegen das eigene Volk einzusetzen.
Zu Tausenden riefen die Menschen Sonntagnacht dagegen: »Lukaschenko, hau ab!« und »Freiheit!« In den sozialen Netzwerken schrieben Beobachter, dass Lukaschenko seinen Machtanspruch nach der beispiellosen Gewalt gegen die eigene Bevölkerung verwirkt habe. Solch ein Ausmaß an Protesten gab es noch nicht in Belarus. Die Internetseite der Wahlleitung war nicht mehr abrufbar - wie die meisten Webportale im Land. Es funktionierte aber noch der Nachrichtenkanal Telegram.
Oppositionsführerin ruft Sicherheitskräfte zum Gewaltverzicht auf
Lukaschenkos Gegnerin, Swetlana Tichanowskaja, kündigte an, keine Niederlage anzuerkennen. Die 37-jährige Hausfrau ohne politische Vorerfahrung hatte in den vergangenen Wochen an Zustimmung gewonnen, obwohl die Behörden hart gegen die Opposition vorgegangen waren. Tichanowskaja war angetreten, nachdem ihr Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, inhaftiert und von der Wahl ausgeschlossen worden war.
Tichanowskaja rief die Sicherheitskräfte in der Nacht zum Gewaltverzicht auf. »Ich möchte Polizei und Militär daran zu erinnern, dass sie Teil des Volkes sind«, sagte sie nach Angaben ihres Wahlkampfstabs. An ihre Anhänger appellierte sie, Provokationen zu unterlassen. »Ich weiß, dass die Menschen in Belarus morgen in einem neuen Land aufwachen werden«, meinte Tichanowskaja.
Lesen Sie auch: Lukaschenko lässt marschieren - Nach der Präsidentschaftswahl fürchtet die belarussische Führung mehr Widerstand
Ziel Tichanowskajas war es im Wahlkampf, die Abstimmung zu gewinnen, als Präsidentin alle politischen Gefangenen freizulassen und dann freie Neuwahlen anzusetzen. Sie kandidierte an Stelle ihres Ehemanns Sergej Tichanowski. Der regierungskritische Blogger sitzt wie der frühere Banken-Chef Viktor Babariko in Haft - wegen Anschuldigungen, die als politisch inszeniert gelten. Agenturen/nd
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.