Das Übermorgen im Heute

Kunst-Kollektive zeigen im Club »Wilde Renate« eine verspielte Reise durch Berliner Subkultur

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 6 Min.

»Links an die Wand stellen«, befiehlt ein junger Mann im Overall. Bevor Besucher*innen in die Welt von »Overmorrow« eintauchen, werden sie von oben bis unten in Kunstnebel eingehüllt. »Ganzkörperdesinfizierung« müsse sein. Was auch sein muss, sind Mundschutz und Abstand. Zeitlich versetzt und in Zweiergruppen bahnen sich die Besucher*innen tastend ihren Weg durch den Nebel in die dunklen Gänge des Berliner Clubs »Wilde Renate«. Als »immersive walkthrough art experience«, ein Kunsterlebnis mit immersiver Ortsbesichtigung, bezeichnen die Macher*innen das, was sie in dem wegen Corona geschlossenen Club geschaffen haben. »Overmorrow« funktioniert ein bisschen wie Geisterbahn - mit sehr lebendigen und leicht bekleideten Geistern.

Etwa fünf Minuten haben die Gäste jeweils für die verschiedenen Räume, in denen Performances, Ausstellungen oder Videos gezeigt werden. In den kühlen Club-Katakomben stößt man zu Anfang auf eine Installation aus Röhrenfernsehern. Auf einem der Bildschirme erteilt eine Person in Militäruniform auf Englisch Anweisungen: »Abstand halten! Nicht rauchen!« Helle Pfeile am dunklen Boden weisen den weiteren Weg.

»Overmorrow« ist ein alter englischer Begriff für »übermorgen«. Wie sieht unsere Welt nach der globalen Pandemie aus? Wo wird uns der Weg hinführen - in Richtung Utopie oder Dystopie? Das sind Fragen, die die Ausstellung aufwerfen will. Sie führt aber auch vor Augen, wie dystopisch sich unsere Gegenwart zuweilen bereits anfühlt. In Zweiergruppen mit Mund-Nasen-Schutz durch den Club? Wer hätte sich das vor ein paar Monaten vorstellen können?

Durch ein Guckloch in einer Holztür werfen Besucher*innen auf ihrer Reise einen Blick in längst vergangen scheinende Zeiten. Ein Video zeigt fröhliche, eng tanzende Menschen. Eine bis vor Kurzem alltägliche Szene, die heute für gemischte Gefühle zwischen Unbehagen und Wehmut sorgt.

Viele Räume sind so liebevoll und verspielt gestaltet, dass fünf Minuten kaum ausreichen, um sie zu erfassen. Dazu gehört ein Saal wie aus »Alice im Wunderland«, in dem Besucher*innen zwischen drei Richtungen wählen können, darunter Wege in einen Kaninchenbau und in einen Kleiderschrank. Dahinter prangt inmitten eines Raumes, dessen Decke mit Disco-Kugeln bedeckt ist, ein roter Alarm-Knopf. Es gilt sich zu entscheiden: Drücken oder nicht drücken?

Ein wenig beängstigend wird es in einem Flur, der von Stroboskoplicht erhellt wird. Was zuerst aussieht wie Wände, erweist sich als dünner, dehnbarer Stoff, hinter dem sich menschliche Körper bewegen, die immer näher zu kommen scheinen.

An einigen Orten schaffen es die beteiligten Künstler*innen, durch Licht, Ton und durchsichtige Vorhänge Momente der Spannung und der Überraschung zu erzeugen. Plötzlich wähnt man sich tatsächlich in einer Art Club-Geisterbahn, in der Realität und Fiktion verschwimmen. So schafft »Overmorrow« Effekte der »Immersion«, was für das Eintauchen in eine virtuelle Realität steht - und inzwischen als Begriff nicht nur für Computerspiele, sondern auch im Theater- und Ausstellungsbereich verwendet wird.

Ein noch tieferes Eintauchen ist auch durch die Interaktion mit Performance-Künstler*innen möglich. Wer sich traut, kann seine außenstehende Position verlassen und sich in Gespräche mit Performer*innen oder einen Tanz mit einer beinahe nackten, sich räkelnden Katze begeben.

Immer wieder geht es bei den künstlerischen Darstellungen um Sexualität, Geschlechtergrenzen - und deren Überwindung. Einer der Räume ist streng in einen rosafarbenen und einen hellblauen Bereich aufgeteilt. Artefakte wie Bügeleisen, Bälle oder Sportschuhe sind beiden Bereichen zugeordnet. Ein Magier überschreitet tanzend die Grenze, legt Hellblaues zu Rosafarbenem und andersherum. Während hier queere Themen eher holzschnittartig verhandelt werden, geht es anderswo subtiler zu.

In einem plüschig ausstaffierten Raum, in dem unzählige Augen aus vulvaförmigen Gebilden blicken, liest ein Orakel einen Text über ein heterosexuelles Paar vor. Jeden Monat dachte die Frau, sie sei schwanger. Doch ihr Zyklus dauerte einfach etwas länger als im Lehrbuch angegeben. Wie müssen menschliche Körper aussehen und funktionieren? Was ist Normalität? Das sind Themen, die in Berliner Clubkultur verhandelt werden - und sich in der Präsentation von »Overmorrow« widerspiegeln. Gestaltet wird das Projekt von in der Clubszene verankerten Kunstkollektiven wie Bad Bruises and TrashEra.

Nackt sind in der Ausstellung - ganz im Einklang mit kollektiven Sehgewohnheiten - leider nur weiblich gelesene Körper. Das aber kann ein Zufall sein, denn sowohl die Performer*innen als auch ihre Präsentationen ändern sich ständig. Das Overmorrow-Erlebnis sei bei jedem Besuch anders, erzählt Benedikt Bogenberger, der normalerweise bei der »Wilden Renate« und der nahe gelegenen »Else« für Booking und Grafik zuständig ist. Für »Overmorrow« übernimmt er die Pressearbeit. Beteiligt seien an dem Projekt inzwischen fast 50 Künstlerinnen und Künstler. Für die »Wilde Renate« sei die Ausstellung ein Non-Profit-Projekt, erklärt Bogenberger. Die Einnahmen aus dem Verkauf der - je nach Tageszeit zwischen 15 und 25 Euro teuren - Tickets kämen den Künstler*innen zugute. Denn die haben es in der Krise schwer - besonders diejenigen unter ihnen, die nicht in Deutschland steuerlich gemeldet sind und deshalb nicht von den hiesigen Hilfsprogrammen profitieren konnten.

Museen sind wieder geöffnet, auch der Theaterbetrieb findet Möglichkeiten. Die Subkultur, die sich normalerweise in den Berliner Clubs abspielt, aber liege brach, betont Benedikt Bogenberger. »Overmorrow« ist als Chance gedacht, diese Kultur sichtbar zu machen und Künstler*innen Einnahmen zuverschaffen. Das Projekt scheint jedoch noch einen weiteren, interessanten Effekt zu haben: Die Arbeit queerer, subkultureller Kunst-Kollektive wird einer erweiterten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zwar kommen viele Menschen aus dem Dunstkreis der Kollektive, erzählt Benedikt Bogenberger. Außerdem aber kommen andere kunstinteressierte Berliner*innen, die sich sonst kaum in die Warteschlangen vor den Techno-Clubs verirren.

Geplant sind vorerst Vorstellungen bis Ende August, jeweils von Mittwoch bis Sonntag. Es laufe besser als erwartet, erzählt Bogenberger. An diesem Tag etwa seien alle Zeitslots ausverkauft. »Ich habe gedacht, dass es eine wahnsinnige Idee ist, so etwas im Sommer zu machen«, verrät er.

Doch Sonne hin oder her: Die Besucher*innen tauchen weiter hinab in die Dunkelheit von »Overmorrow«. Wenn sie wieder ausgespuckt werden, landen sie jedoch direkt im Biergarten der »Wilden Renate«.

Die Finanzen des Clubs seien bis Ende August gesichert, erzählt Bogenberger. Was die Zukunft betrifft, schwanke sein Gefühl von Tag zu Tag. An diesem sonnigen Nachmittag unter der Woche im gut besuchten Biergarten scheint er recht optimistisch. Die Förderungen in der Stadt seien so gut, dass man zumindest überleben könne. »Ich glaube, dass Berlin seine Clubs erhalten will«, sagt er.

Nächste Vorstellungen: jeweils von Mittwoch bis Sonntag zwischen 15 und 22 Uhr

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