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Aber Vati!

Der Ilmtalradweg führt vom Rennsteig stetig bergab zur Mündung in die Saale. Gerade Kindern macht Thüringens beliebtester Radweg Spaß - wenn man sie dazu überreden kann.

Ilmtalradweg – Aber Vati!

Och nee, jetzt regnet’s auch noch! Das soll Urlaub sein? Die Signale, die der Zehnjährige sendet, sind eindeutig: Beleidigter Blick, betont langsame Bewegungen - er hat keine Lust auf das hier: Tagelang mit seinen Eltern durch Thüringen! Radeln, radeln, radeln. Und jetzt soll er mitten im Juli auch noch ein Regencape überziehen. Neben uns brettert ein Lkw in eine Pfütze. Es spritzt auf den Radweg, in einem Thüringer Dorf namens Langewiesen. Der Junge ist bedient; statt Strand steht ihm dieser Heimaturlaub bevor - auch noch auf dem Fahrrad. »Scheiß Corona!«, flucht er, dann fährt er mit schnellen Tritten vorneweg. Wir Eltern werfen einander bedeutungsvolle Blicke zu, ehe wir auf die schwer beladenen Räder steigen und dem Missgelaunten folgen. Heute stehen 51 Kilometer an. Ob das gut geht?

Von Ilmenau nach Bad Berka

Es ist die erste von unseren drei Etappen auf Thüringens beliebtestem Radweg, dem Ilmtalradweg, der auf 123 Kilometern den Fluss in seinem Lauf begleitet - von der Quelle in Allzunah im Thüringer Wald bis hinunter nach Großheringen, wo die Ilm in die Saale mündet. Aus dem Mittelgebirge hinab in das Weingebiet Saale-Unstrut. Nachts schlafen wir in im Voraus gebuchten Unterkünften. Wir haben uns heute in Ilmenau auf dem Radweg eingeklinkt, das erste Teilstück bis Bad Berka ist gleich das längste.

Schon bald reißt der Himmel auf. Sonne! Wir radeln unterm Regenbogen auf schnurgerader Piste und atmen den Duft von Sommerregen. Die Räder rollen fast von allein - wegen des Gefälles: Der Ilmtalradweg beginnt auf 755 Metern über Normalnull und endet auf 144 Metern. Es geht stetig bergab. Da sich hier niemand die Bergauf-Route antut, sind wir die ganze Zeit allein - auf dem grauen Asphaltband, das dem Fluss auf seinen Verschlingungen durch das Tal folgt.

Der Zehnjährige hat das Potenzial dieser Radtour erkannt: Mit voller Kraft tritt er auf den Abfahrten in die Pedalen. Begeistert versucht er, neue Geschwindigkeitsrekorde zu erzielen: »Papa, war ich schneller als 40 km/h?« - »Ja, Junge! Aber fahr jetzt lieber vorsichtiger!« Er hört’s nicht mehr, er ist schon wieder vorneweg. Zum Glück trägt er Helm.

Es mehren sich die Anzeichen, dass alles gut werden könnte: In Gräfinau-Angstedt rät ein netter Pensionär am Gartenzaun, im benachbarten Stadtilm die erste Pause einzulegen. »Geht ins Freibad! Und danach scheen am Morkt ein Eis schleggen!«

In Stadtilm angekommen, ist der Sohn ganz und gar im Glück: Für die hiesigen Kids beginnen die Ferien erst in einer Woche; weswegen wir die einzigen Besucher des Freibades unter einem 1893 erbauten Eisenbahnviadukt sind. Ein blaues 50-Meter-Becken und ein Einmeterbrett - ganz für uns allein. Wassertemperatur 18 Grad! Brrr! Aber egal: Wir üben Kopfsprünge und Tieftauchen. Die Bademeisterin sagt, sie wundere sich, dass heute überhaupt jemand gekommen ist.

Erfrischt geht es weiter. Wir radeln nach Kleinhettstedt, zur Kunst- und Senfmühle. Mühlenbesitzerin Elke Morgenroth und ihre Familie haben aus der ursprünglichen Getreidemühle nach der Wende eine Senfmühle gemacht, gezwungenermaßen, wie Elke Morgenroth sagt: »Wir haben hier noch Anfang 1990 nach einem Umbau die größte Roggenmühle der DDR in Betrieb genommen. Zwei Monate später haben wir sie ausgeschaltet. Wir waren nicht konkurrenzfähig.«

Zumindest bekam die Familie die im real existierenden Sozialismus enteignete Mühle zurück, ein riesiger Fachwerkbau aus dem 16. Jahrhundert. Heute gibt es dort ein Mühlenmuseum, zwei Ferienwohnungen, ein Restaurant, eine Kunst-Tenne mit Hofladen und das Senfgeschäft. Die Morgenroths mahlen aus Thüringer Ökosamen einen sensationell aromatischen Senf. Ätherische Öle, die sich beim industriellen Senf während des Mahlens verflüchtigen, sorgen beim Manufaktursenf für Geschmacksexplosionen. 14 Sorten Senf produzieren die Morgenroths, wir nehmen vier Steinguttöpfe davon mit (Schabziger Klee, Süß, Küchensenf und Premium mit extra viel schwarzen Senfsamen). Noch mehr Ballast auf dem Rad, aber lecker.

Am frühen Abend erreichen wir das idyllische Bad Berka. Eigentlich hatten wir uns vorher noch die Falkenshow auf der Niederburg Kranichfeld - direkt am Ilmtalradweg - ansehen wollen, aber wegen unserer Pausen waren wir zu spät. So ist Radreisen: Etliches entdeckt man neu, vieles aber verpasst man auch; gewollt oder ungewollt.

Der erste Rad-Tag ist insgesamt gelungen. Die 51 Kilometer haben dem Zehnjährigen nur wenig ausgemacht. Wir nächtigen im Veloinn, einem schicken Bed & Breakfast mit angeschlossenem E-Bike-Verleih und Fahrradwerkstatt. Für Notfälle außerhalb der Öffnungszeiten steht ein Automat mit frischen Fahrradschläuchen vor der Tür.

Von Bad Berka nach Weimar

Der nächste Morgen: Wegen der Corona-Auflagen sind Frühstücksbüfetts in Thüringen anno 2020 tabu. Gut für uns Gäste: Frische Wurst vom Fleischer, selbst gemachtes Müsli, Obstjoghurt, Bäckerbrötchen - allerlei Leckeres wird im lichtdurchfluteten Frühstücksraum serviert. Veloinn-Chef Dietmar Meier erzählt dabei vom Ausbau seines Hauses: Der Fahrrad-Enthusiast hat dieses alte Feuerwehrgebäude liebevoll zu einer modernen Radlerunterkunft umgebaut. Längst kommen auch viele Gäste zu ihm, die keine Radfahrer sind; einfach, weil sie das Ungezwungene so mögen. Ohne Corona wäre sein Haus in diesem Sommer fast schon überbucht gewesen, sagt Meier, doch es kam anders. Außer uns hatte er in der vergangenen Nacht nur einen Gast, erfahren wir.

Dennoch schwärmt der Veloinn-Chef unbeirrt vom Biken in der Region. Detailliert beschreibt er, wo es unterwegs Gutes zu essen und Spannendes zu sehen gibt. Als er erfährt, dass unsere Tour schon übermorgen in Bad Sulza enden soll, interveniert er: »Also die letzten Kilometer bis zur Flusshochzeit müsst ihr noch fahren! In Großheringen mündet die Ilm in die Saale, das dürft ihr keinesfalls verpassen!« Wir danken, zurren unsere Fahrradtaschen fest und starten auf die kürzeste Etappe unserer Tour, nach Weimar - nur 22 Kilometer. Ein Klacks, oder?

Nun, heute laufen unsere Räder nicht mehr ganz von allein: Den einen oder anderen Anstieg gilt es zu bewältigen, das haben wir bereits im Streckenprofil gesehen. Geologisch gesehen durchschneidet die Ilm hier ein Muschelkalkplateau. Das Flüsschen, an dessen Lauf wir radeln, ist schon etwas breiter als gestern. Auf manchen Teilstücken fahren wir oberhalb des Tales und sehen die Ilm nur aus der Ferne.

In dem Örtchen Buchfahrt erleben wir Höhe- und Tiefpunkt der Etappe: Unten im Tal rasten wir an der alten Wassermühle und bestaunen die überdachte Holzbrücke: 200 Jahre alt, 43 Meter lang, drei Meter breit. Jedes Auto, das über sie rollt, erzeugt ein wildes Grollen. Der Zehnjährige guckt und guckt. Dass die Eltern ständig in alte Kirchen wollen, versteht er nicht: Aber die Begeisterung für dieses alte Bauwerk kann er teilen.

Kurz darauf dann Entsetzen: Der Radweg führt plötzlich jäh nach oben. »13 Prozent Steigung über 300 Meter«, warnt ein Schild. Puh! Es ist so steil, dass der entmutigte Junge nicht mal schieben will: »Vergiss es, Papa!« Für den Vater heißt es: Seufzen, durchatmen, loslegen: Dann eben zwei Räder hochschieben, peu à peu. Es dauert, aber was soll’s? Allein, dass gerade dieses sichtbar unsportliche Rentnerpaar auf E-Bikes mühelos bergauf fährt, sorgt für leichte Missstimmung.

Am frühen Nachmittag rollen wir in Weimar ein. Überpünktlich - so bleibt etwas mehr Zeit, um wenigstens ein paar der Highlights der Unesco-Welterbe-Stadt zu erleben: Kinderführung in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, Goethe-Nationalmuseum, Bauhausmuseum Weimar. Die Stadt ist voll mit Besuchern und Studenten, scheinbar aus aller Welt. Fürs Abendessen ist kaum ein Platz im Restaurant zu ergattern.

Von Weimar nach Bad Sulza

Auf zur Abschlussetappe heißt es am nächsten Morgen. Es soll heiß werden. Die Sonne brennt unerbittlich, zum Glück windet sich der Weg aus Weimar heraus über weite Strecken direkt am Fluss entlang: Die Bäume spenden Schatten. In Kromsdorf gleich hinter Weimar gibt’s schon das nächste Schloss mit Park zu entdecken. Der Radweg führt direkt durch den Schlossgarten. Idyllisch.

Dann allerdings wird die Tour eintöniger. Felder, Hügel, Landstraßen: Die Ilm fließt unten durch die Senke, während wir uns über den hitzeflimmernden Asphalt quälen - immer Richtung Bad Sulza. Immer wieder kündigen Schilder Restaurants an der Strecke an, doch etliche scheinen nicht mehr zu existieren. Wir schwitzen viel.

Schließlich erreichen wir Bad Sulza - thüringenweit bekannt für seine Therme. Wir allerdings wollen an so einem hitzigen Tag lieber ins kühle Freibad als in heiße Salzwasser. Es ist Wochenende, die Badeanstalt ist brechend voll. Doch wir wollen baden. 100 Kilometer Radtour liegen hinter uns.

Wir tauchen ein ins Becken-Getümmel. Auf der breiten Rutsche passiert dann das Malheur: Beim Wettrutschen versucht's der Zehnjährige dummerweise auf Knien! Er schlägt mit dem Kinn auf die Rutsche. Eine blutende Platzwunde, der Bademeister ruft den Krankenwagen, mit Blaulicht geht’s ins Krankenhaus Apolda, wo die Wunde mit Spezialpflaster geklebt wird. Mehr als 100 Kilometer hat er die steilsten Abfahrten unbehelligt geschafft, nun bleibt ihm eine Narbe am Kinn: Erinnerung an den Radurlaub 2020.

Auf der Taxifahrt zurück nach Bad Sulza ruft der Junge seinen großen Bruder an. Er berichtet vom netten Krankenwagenfahrer, von der Blaulichtfahrt und seiner imposanten Verletzung. Ausführlich schwärmt er dabei auch von den Abenteuern, die er in den letzten Tagen erlebt hat: »Es war ziemlich cool!« sagt er beiläufig. Wir Eltern tauschen dabei bedeutungsvolle Blicke: Bis zur Flusshochzeit haben wir es nicht ganz geschafft. Aber am Ende ist alles bestens gelaufen.

Tipps:

Radweg: Auf einer Strecke von 123 km Länge von der Ilmquelle bis zur Mündung in die Saale. Der Weg ist vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club ADFC zertifiziert worden: mit vier von fünf Sternen. Routenführung, Wegweiser und touristische Infrastruktur wurden dabei als herausragend bewertet.

Allgemeine Infos:

www.thueringen-entdecken.de

Mögliche Etappen:

1. Allzunah-Ilmenau (15 km)

2. Ilmenau-Bad Berka (51 km)

3. Bad Berka-Weimar (22 km)

4. Weimar-Bad Sulza (34 km)

Natürlich ist auch eine abweichende Planung möglich.

Navigation:

Ideale Routenplanung und Navigation mit der App »Radroutenplaner Thüringen«.

radroutenplaner.thueringen.de

Übernachten am Ilmtalradweg:

Hotel Mara Ilmenau: Moderne, minimalistisch eingerichtete Zimmer am Bahnhof, DZ 87 Euro. www.mara-hotel.de

Velo Inn Basislager Bad Berka: Stylishes Bed & Breakfast mit Radverleih und Werkstattservice. DZ 69 Euro. www.veloinn.de

Hotel Kipperquelle Weimar, biozertifiziertes Bett+Bike-Hotel an den Ilmauen, DZ 89 Euro. www.kipperquelle-weimar.de

Senfmühle:

Mühlenmuseum, Hofladen, Restaurant, Senfverkauf und Ferienwohnungen in Kleinhettstedt

www.premiumsenf.de

Die Recherche wurde unterstützt von Thüringen Tourismus.

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