Löwe, Lamm und ein Störfall
Emmanuelle Bayamack-Tam lässt eine antidystopische Heldin erwachsen
Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag
Wir kommen nachts an, nach einer anstrengenden Fahrt im Toyota Hybrid meiner Großmutter - schließlich mussten wir halb Frankreich durchqueren und dabei Hochspannungsmasten und Mobilfunkantennen meiden, während uns die Schreie meiner Mutter in den Ohren hallten, trotz ihrer Rüstung aus Antistrahlungstüchern. Wie wir an diesem Abend empfangen werden, wie mein erster Eindruck von den Örtlichkeiten ist, weiß ich kaum mehr. Es ist spät, es ist dunkel, und ich muss das Bett mit meinen Eltern teilen, weil für mich noch kein Zimmer vorgesehen ist - an meinen ersten Morgen im Liberty House erinnere ich mich hingegen ganz genau, vom Licht der Dämmerung an, das durch die gestärkten Vorhänge fällt, ohne mich wirklich zu wecken.
Die junge Farah, überzeugt, ein Mädchen zu sein, begreift eines Tages, dass ihr Körper nach und nach männlicher wird. Krankhafte Mutation oder sagenhafte Metamorphose? Ihre Eltern haben in einer libertär lebenden Kommune Zuflucht gefunden, deren Mitglieder in der modernen Welt nicht zurechtkommen.
Farah wächst in diesem von riesigen Wald- und Wiesenflächen umgebenen Paradies auf, wo sie mit anderen Kindern erlebt, wie die Erwachsenen mehr schlecht als recht ihre Ideale umsetzen: Absage an gesellschaftliche Normen, Freikörperkultur, freie Liebe und zwar für alle, auch für Alte und Kranke. Das Wunder der Liebe entdeckt Farah mit Arkady, dem spirituellen Oberhaupt dieser bunten Gemeinschaft. Alles könnte so schön sein – wäre nicht ein Migrant in ihr Paradies eingedrungen, der die Kommune in helle Aufregung versetzt. Das Prinzip der universalen Liebe entpuppt sich als Lippenbekenntnis, man will sich hier genauso abriegeln wie in der Außenwelt.
Alle, bis auf Farah, die sich jeder Zuschreibung entzieht: Mit ihrer jugendlichen Kühnheit wird sie zum Prüfstein für die Gemeinschaft und entwirft eine Utopie, in der wirklich alle Menschen aufgehoben sind, ungeachtet ihrer nationalen, sozialen oder sexuellen Identität. Emmanuelle Bayamack-Tam zeichnet mit ihrem preisgekrönten Roman in aller grausam-komischen Schonungslosigkeit ein Porträt unserer Welt – und lässt darin sanft das Bild der Unschuld aufleuchten.
Emmanuelle Bayamack-Tam, geboren 1966 in Marseille, lebt in Paris und arbeitet als Lehrerin in Seine-St-Denis. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift »Autres & Pareils« für zeitgenössische Kunst und Literatur und leitete die »éditions Contre-Pied« seit ihrer Gründung mit. Ihre Romane wurden mehrfach mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet.
Auf dem Rücken ausgestreckt, die Hände schlaff im Schoß gefaltet, mit Satinmasken auf ihren wächsernen Gesichtern, flankieren meine Eltern mich wie zwei friedvolle Grabfiguren. Diesen Frieden hatte ich mit ihnen bisher nie erlebt. Tag und Nacht musste ich mit den Schmerzen meiner Mutter und den quälenden Sorgen meines Vaters zurechtkommen, mit ihrer ständigen, sinnlosen Aufregung, ihren verzerrten Gesichtern und ihrem ängstlichen Gerede. Also bleibe ich liegen, obwohl ich es kaum erwarten kann, aufzustehen und mein neues Heim zu erkunden, und ich lausche ihrem Atem, mache mich ganz klein, um mehr von ihrer Wärme abzubekommen und mich wohlig in ihre Laken zu kuscheln.
Von draußen dringt fröhliches Trillern zu mir, als teilten ganze Nester voller unsichtbarer Spatzen meine Freude, am Leben zu sein. Es ist der erste Morgen und auch ich bin neu. Endlich stehe ich auf und ziehe mich lautlos an, um die Marmortreppe hinunterzugehen, und stelle dabei fest, wie abgenutzt die Stufen in der Mitte sind, als wäre der Stein geschmolzen. Ehrfürchtig klammere ich mich ans Eichengeländer, das vom Griff Tausender feuchter Hände längst poliert und nachgedunkelt ist, ganz abgesehen von den Tausenden jugendlichen Schenkeln, die es triumphal bestiegen hatten, um blitzschnell in die Eingangshalle hinab zu rutschen. Kaum habe ich das lackierte Holz berührt, überwältigen mich aufreizende Bilder: Mädchen in Uniform, Faltenröcke, die den Blick auf Beine in opaken Wollstrümpfen freigeben, brave Zöpfe, schrilles Gelächter, wenn die Schülerinnen unter sich sind. Von diesen Wänden geht etwas Eigentümliches aus, ein Jahrhundert lang haben Heranwachsende sie mit ihren hysterischen Anwandlungen und sapphischen Freundschaften geprägt - aber das begreife ich erst später, als ich erfahre, welchem Zweck dieser Riesenkasten ursprünglich diente, in den ich gerade eingezogen bin. Jetzt gehe ich die Treppe einfach mit kleinen Schritten hinunter und atme in der großen Halle mit dem zweifarbigen Fliesenbelag eine Art religiösen Duft ein. Ja, es riecht nach Bohnerwachs, nach Pergament, geschmolzener Kerze und frommer Hingabe, aber das ist mir völlig schnuppe, ich will nichts wie raus, her mit der Freiheit, der belebenden Luft, dem verdunstenden Tau, dem frühen Morgen, der allein mir gehört.
Arkady überrascht mich auf der herrschaftlichen Freitreppe mit ihrem verschnörkelten Vordach aus Schmiedeeisen, ich kann mich nicht von der Stelle rühren angesichts dieser ungeheuren Schönheit: sanft abfallender Pinienwald, junge Heidelbeersträucher, von Bäumen zerstäubte Sonnenstrahlen, der gedämpfte Ruf eines Kuckucks, das unmerkliche Rascheln eines Eichhörnchens, das über Moos und Laub davonflitzt.
»Gefällt es dir?«
»Ja! Und wie!«
»Nur zu, es gehört alles dir.«
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und flitze ebenfalls davon, unter die hohen Bäume, auf das magisch glitzernde Licht zu, ich suche diesen unsichtbaren Vogel, dessen Kuken und Kichern meiner eigenen Stimmung so gut Ausdruck verleiht. Und so stoße ich bald auf meine Großmutter, die gedankenverloren einen riesigen Haufen loser Erde am Fuß einer Pinie bestaunt. Ohne mich richtig anzusehen, fragt sie: »Was das wohl ist? Ein Grab? Sieht so aus, als hätte hier vor Kurzem jemand gegraben. Ich trau dem Ganzen nicht, diesem Haus, diesem Arkady …«
Ich hätte große Lust, mich an diesen makabren Hirngespinsten zu beteiligen, wäre meine Großmutter nicht splitterfasernackt. Als eingefleischte Anhängerin der Freikörperkultur nutzt sie jede Gelegenheit, sämtliche Hüllen fallen zu lassen, dennoch hatte ich gehofft, dass sie ihr Paillettenkleid nicht ganz so schnell ablegen würde. Wobei ich den Anblick der unbekleidet umherstreifenden Kirsten gewohnt bin. Zu meinen frühesten Erinnerungen zählt, dass ich einmal fast gegen ihre Vulva gestoßen wäre, als ich aus meinem Zimmer trat. Mein Blick reichte gerade bis zum Industrial Piercing, mit dem eine ihrer äußeren Schamlippen durchstochen war, eine Art goldener Nietnagel, der einiges her machte, sodass ich unwillkürlich und mit aller Kraft danach griff, was zu verständlichem Geschrei führte: »Lass das, Farah, das ist kein Spielzeug!«
Da ich höchstens drei gewesen sein dürfte, zog ich umso fester an diesem faszinierenden Ding. Paff, erste Erinnerung, erste Klatsche. Geschrei auch meinerseits, was meine panischen Eltern auf den Plan rief. Marqui erfasste mit einem Blick die Tragweite des Dramas, das sich gerade abgespielt hatte, er nahm mich auf den Arm und sagte so würde- wie vorwurfsvoll: »Sie sollten sich wirklich etwas überziehen, Kirsten, ein Höschen, ein T-Shirt, was auch immer. Ich bin es langsam leid!«
»Wir sind hier unter uns! Ich muss doch wohl nicht auf meine eigene Familie Rücksicht nehmen. Außerdem hat mir diese kleine Gans ganz schön wehgetan.«
»Geschieht Ihnen recht. So werden Sie kein zweites Mal Kleinkinder mit Ihrem Metalltand in Versuchung führen!«
Meine Großmutter gab sich damals geschlagen, ohne daraus eine Lehre zu ziehen, und so stellt sie nach wie vor ihren knochigen, vertrockneten Körper zur Schau, der tatsächlich nichts Anstößiges, weil schlicht nichts Menschliches mehr an sich hat. Man braucht schon viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass dieser kahle Venushügel, diese ockergelbe Hülle, dieses schlaffe, bleiche Gewebe, dieses Netz aus inzwischen schlangenartigen und sogar geschuppt anmutenden Venen früher nicht nur einem weiblichen Wesen, sondern einer der schönsten Frauen ihrer Generation gehörten. Und ihr Busen … Nachdem sie immer lautstark verkündet hat, Büstenhalter seien tödlich für die Brüste, erkennt sie offenbar nicht, dass ihre eigenen nunmehr parallel zum Brustkorb verlaufen, die restlos erschöpften Brustwarzen hängen dreißig Zentimeter unterhalb ihres Ursprungs und schlackern bei der geringsten Bewegung.
Da es keinen Sinn hat, meiner unbezähmbaren Großmutter die Leviten zu lesen, kauere ich mich folgsam vor das frisch ausgehobene Grab und zerkrümele ein paar Erdbrocken, bevor ich mich an eine Vermutung wage:
»Vielleicht war das ein Tier?«
»Was für ein Tier wird das gewesen sein? Ein Riesenmaulwurf?«
»Ich werde Arkady fragen.«
»Na klar, geh doch deinen Guru fragen.«
Ich weiß kaum, was ein Maulwurf und erst recht nicht, was ein Guru ist, und so verschlägt es mir die Sprache, wie so oft bei Kirsten, die zu allem eine Meinung hat und ihre ehernen Ansichten unaufhörlich von sich gibt. Zu Arkady habe ich mir selbst noch keine Meinung gebildet, doch weil er meine Mutter gerade vor dem sicheren Tod gerettet hat, vor einem langsamen Dahinsiechen unter den entsetzlichen Qualen, die eine Elektrohypersensitivität bedingt, möchte ich, dass Kirsten ihm eine Chance lässt, und so wage ich immerhin zu fragen:
»Warum bist du überhaupt mitgekommen, wenn du Arkady nicht leiden kannst?«
»Ich sehe mich nur vor.«
Sie macht auf dem Absatz kehrt, Richtung Liberty House. Ihrer stolzen Haltung konnten die Jahre nichts anhaben, und so geht sie immer noch wie auf dem Laufsteg, wahrscheinlich ahnt sie nicht, welches Schauspiel ihre schlotternden, beuligen Trizepse und erschlafften Pobacken bieten. Als sie in Sichtweite des Hauses gerät, wickelt sie sich halbherzig in ihr Paillettenkleid, aber ich werde sehr bald einsehen, dass mir egal sein kann, welchen Eindruck die Nacktheit meiner Großmutter auf die Einwohner vom Liberty House macht, die sich alle nach dem Paradies vor dem Sündenfall sehnen.
Ich bleibe allein mit dem ungeklärten Rätsel des Grabhügels und dem zweiten großen Rätsel, das dieses Areal eines mediterranen Waldes mir aufgibt mit seinen schuppigen Stämmen, seinem rauschenden Laub, seinen harzigen Düften und seiner Tierwelt, die meine kleinste Regung belauert. Dieser Wald gehört mir, Arkady hat ihn mir geschenkt. Dass es sich nur um den weitläufigen Park eines Guts handelt, entgeht mir voll und ganz, für mich ist es ein noch unentdeckter Dschungel, den ich mit allem gebotenen Ernst verwalten will. Ich stecke meine Pfade ab, kennzeichne meine Bäume und erfasse die Zahl meiner Untertanen: Zwergfledermäuse, Steinböcke, Holzwürmer, Meisen, Raupen, Füchse, Blindschleichen … Kein Tag vergeht, ohne dass ich etwas Neues, Magisches entdecke: rote Pilze mit weißen Tüpfeln, Hasen, die vor Schreck erstarren, Heidelbeeren, Walderdbeeren, Schwärme winziger Fliegen, die über den Pfaden schweben, die makellos blau-schwarz gestreifte Feder eines Eichelhähers, die ich mir als Talisman in die Tasche stecke.
Das Rätsel des Grabhügels klärt sich übrigens ein paar Tage später, als meine Familie und ich zur Aufstellung eines Gedenksteins am Fuß der großen Zeder geladen werden: Im Liberty House haben auch Hunde ein Anrecht auf Bestattung. Schade, denn ich hätte gern Ermittlungen aufgenommen, eine nächtliche Exhumierung durchgeführt, menschliche Knochen oder wenigstens einen Schatz aus Dukaten und Dublonen freigelegt. Ich werde meine Zeit aber nicht mit Jammern verschwenden, nur weil man mir dieses Rätsel entschlüsselt hat, dafür bleiben im Liberty House noch zu viele andere bestehen. Meine Kindheit hat gerade eine neue Wendung genommen, so unverhofft wie zauberisch, das spüre ich, und so steigen am Grab dieses unbekannten Hundes Glückseligkeit und freudige Erwartung in mir auf. Und ich brauche nur das Gesicht meiner Mutter anzusehen, endlich frei von Imkerschleiern und schmerzbedingten Ticks, um mich in meinen herrlichen Hoffnungen bestärkt zu fühlen.
Emmanuelle Bayamack-Tam:
Arkadien
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Secession
392 S., geb., 28,00 €
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