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Es war ein Privileg dabei zu sein
Vor 50 Jahren gewinnt Salvador Allende in Chile die Präsidentschaftswahlen. Den Aufbruch im Land erleben auch viele Nicht-Chilenen.
Am 4. September jährt sich zum 50. Mal der Wahlsieg Salvador Allendes. Als bekennender Marxist gelingt dem Kandidaten des Linksbündnis Unidad Popular (UP) damals Unerhörtes: Eine knappe Mehrheit der chilenischen Bevölkerung entscheidet sich an der Wahlurne dafür, den Aufbau eines demokratischen Sozialismus zu wagen - auf ganz legalem Weg. International herrscht links wie rechts Skepsis: Während die US-Regierung nicht müde wird, vor einem »zweiten Kuba« zu warnen, kritisieren Anhänger*innen der kubanischen Revolution den »bürgerlichen Charakter« des chilenischen Irrweges, da beim Kampf gegen das Imperium nichts an einer bewaffneten nationalen Befreiung vorbeiführe. Euphorisch reagieren dagegen alle jene, die der Kalten-Kriegs-Logik müde sind, die genug haben vom Krieg in Vietnam und der Niederschlagung von Reformbewegungen wie dem Prager Frühling. Könnte es nicht sein, dass dort in Chile an einem gerechteren Miteinander laboriert wird, das sich an einem kollektiven Horizont orientiert ohne dafür individuelle Freiheiten opfern zu müssen?
Zehntausende zieht es in der dreijährigen Regierungszeit Allendes nach Chile: unabhängige Berichterstatter wie Saul Landau und Régis Debray, Intellektuelle wie Rossana Rossanda und Eric Hobsbawm, Künstler*innen wie Leonore Mau und Silvio Rodriguez, oder Politiker wie Zhou Enlai und Francois Mitterand. Doch während viele der hier Genannten flüchtige Zaungäste bleiben, gibt es damals in Chile auch eine bunte internationale Community. Besonders die Hauptstadt Santiago hat bereits vor dem Wahlsieg der UP den Ruf eines kosmopolitischen Zentrums. Viele weltweit operierenden Unternehmen, Banken und Organisationen haben hier ihren Sitz. An den Universitäten tummeln sich Gastdozenten und internationale Forschende. Auch die Jesuiten senden zu Beginn der 1960er Jahre verstärkt ihre Missionare, und im Zuge der Agrarreform strömen bereits ab 1967 viele Fachkräfte ins Land, unter anderem aus Frankreich, Israel und den USA. Zu all ihnen gesellen sich in regelmäßigen Abständen Menschen, die vor autoritären Regierungen oder Staatsstreichen aus Nachbarländern nach Chile flüchten. Und natürlich sind auch politische Aktivist*innen, Abenteurer*innen und Freiwillige dabei - die oftmals ohne Rückfahrkarte ankommen.
Viele dieser unterschiedlichen Menschen werden ab 1970 Aktivposten eines »neuen Chiles«. Einige sind organisch in die politischen und kulturellen Prozesse der UP eingebunden, andere wahren bei aller Solidarität eine analytische Distanz und einen kritischen Blick »von außen«. Nach dem gewaltsamen Ende des nur 1000 Tage währenden sozialen Aufbruchs verlassen die meisten internationalen Unterstützer*innen das Land oder müssen gehen, weil ihr politisches Engagement oder die pauschale xenophobe Unterstellung, »ausländische Extremisten« zu sein, sie in Lebensgefahr bringt. Viele Chilen*innen gehen mit ihnen ins Exil. So zerfällt die viel beschworene Einheit des chilenischen Wegs in ein globales Mosaik, dessen Einzelteile - oft unbeachtet - Teil neuer partizipativer Prozesse werden: Nachbarschaftsgruppen, Menschenrechtsorganisationen, Kinofestivals, Landwirtschaftskooperativen, akademische Netzwerke und politische Arbeit.
Die Soziologin der Straße
Mirta Palomino aus Argentinien
»Anfang 1971 fuhren wir mit einer Gruppe von Studienfreunden als politische Touristen nach Chile. Ich war total überwältigt von dem, was da passierte«, erinnert sich Mirta Palomino an den ersten Kontakt mit dem Nachbarland hinter den Anden. Die Rückkehr nach Argentinien ist von kurzer Dauer, »denn in einer Militärdiktatur zu leben ist nicht sonderlich attraktiv«. Mirta lernt Héctor kennen, der wie sie für die Unidad Popular schwärmt. Sie wollen dabei sein, »in Chile den Sozialismus aufbauen und eine Familie gründen«. Die Elternhäuser des jungen Paars sind schockiert, alles gehe viel zu schnell. Widerwillig heiraten die beiden vor ihrer Abreise, um den Familiensegen einigermaßen zu retten. Im Nachhinein ein Glücksfall, denn die von sozialistischen Freunden vermittelten Arbeitsplätze im nordchilenischen Arica gibt es bei ihrer Ankunft nicht mehr. So bleiben die beiden in Santiago und leben das erste halbe Jahr von den Hochzeitsgeschenken, gehen zu Demonstrationen, Kulturveranstaltungen und debattieren mit den neuen Nachbarn - »Unser ganzes Leben spielte sich praktisch auf der Straße ab.«
Beide finden Arbeit an der Universität. Mirtas Job hat eher administrativen Charakter, aber sie versteht ihn als wichtiges Sandkorn für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. An den Wochenenden fährt sie mit Héctor und gemeinsamen Freunden oft in die Armenviertel, um Freiwilligenarbeit zu leisten, auf Baustellen, politischen Seminaren oder Alphabetisierungskursen. Hier fühlt sich Mirta sehr wohl, »denn unsere Freunde an der Universität kamen alle aus Arzt- oder Anwaltsfamilien. Wir dagegen waren die ersten aus der Familie, die studiert hatten.« In Chile sei es an der Akademie noch immer recht elitär zugegangen, die Öffnung habe Zeit gebraucht. Ebenso langsam verläuft der Wandel der Geschlechterrollen. »Wenn wir Freunde zum Essen oder Ausgehen abholten, blieben die Frauen oft zu Hause bei den Kindern. Der reinste Horror.«
Sie selbst kommt nicht mehr dazu, vorzuleben, wie sich die Kindererziehung auch anders regeln lässt. Mirta ist im siebten Monat schwanger als der Militärputsch das Land erschüttert. Einen Monat leben sie versteckt, dann gelingt den Palominos mit etwas bürgerlicher Maskerade die legale Ausreise: »Mit dem Strickzeug über meinem riesigen Bauch behandelte mich das Militär wie die Jungfrau Maria.« Für alle Menschen aus Argentinien, die bis 1973 in Chile waren, sei diese Erfahrung immer ein gemeinsames Band geblieben, »ein bisschen so wie Freunde fürs Leben. Es war ein Privileg dabei zu sein und die Unidad Popular erlebt zu haben.«
Der ehemalige Bayer-Manager
Dierk von Drigalski aus der Bundesrepublik Deutschland
»Um unser Gebäude herum marschieren Gruppen mit roten Fahnen, holt mich hier raus!« Zufällig hört Dierk von Drigalski 1972 den aufgeregten Anruf des Geschäftsführers der Bayer AG aus Santiago de Chile mit, als er gerade die Geschäftsleitung in Leverkusen besucht. Drigalski, der für den Chemiekonzern bis dato ein Joint Venture in Indonesien betreut hatte, bietet sich sofort als Ersatz an - nicht weil er in Südamerika das große Geld wittert, sondern weil ihn »dieses fantastische Experiment eines Sozialismus mit bürgerlichen Freiheiten« so interessiert. Er überredet seine Partnerin Greta, ihm »in ein ihr völlig unbekanntes Land zu folgen« und ist schon einige Wochen später vor Ort, um »den Laden wieder zum Laufen zu bringen«, vor allem die Pflanzenschutzmittelsparte. Kein leichtes Unterfangen: Das Werk wird zeitweilig besetzt, es fehlt an Rohstoffen, es kommt zu Streiks. Drigalski ist als politischer Vermittler gefragt.
Vermuten die Funktionäre der staatlichen Planungsbehörde Odeplan in Drigalski anfangs nur einen weiteren Gringo, der sich bei ihnen über Profiteinbußen beklagen will, ändern sie ihre Meinung bald. Besonders bei einer Staatssekretärin und Vertreterin der Kommunistischen Partei findet er mit seinen Argumenten Gehör, dass die Herstellung bestimmter Pestizide Priorität haben müsse, um die Grundversorgung mit lebenswichtigen Agrarerzeugnissen zu gewährleisten. Doch seine Idee eines Quasi-Joint Ventures zwischen Bayer und dem chilenischen Staat scheitert an Widerständen innerhalb der Linken. So bleibt Drigalski oft in der Rolle des kritischen Zuschauers gefangen. Die Verstaatlichung von ländlichen Familienbetrieben kritisiert er als kontraproduktiv, da damit die Wählerbasis der Mittelklasse verprellt würde. Ebenso enttäuscht ist er von der geringen Wirtschaftshilfe der UdSSR für das chilenische Brudervolk. Die kommunistische Supermacht sei schlicht nicht »interessiert gewesen an einem Sozialismus mit demokratischen Werten«.
Während des Fuhrunternehmerstreiks 1972, mit dem die chilenische Rechte die Regierung in die Knie zwingen will, stellt Dirgalski die Infrastruktur von Bayer in den Dienst der Notversorgung der Bevölkerung. Den Sturz Allendes durch Teile des Militärs erlebt er aus der Ferne - sein Vertrag in Chile war auf ein Jahr befristet. Mit Bayer verbinde ihn heute nichts mehr. Lieber unterstützt er ehrenamtlich Bananenkooperativen in Ecuador. Und er ist nach wie vor überzeugt, »dass die sozialistischen Ideen von Allende unter demokratischen Verhältnissen durchführbar waren«, hätte es keine Einmischung von außen gegeben.
Der Guerillero der Tupamaro
Miguel Ángel »El Cristo« Olivera aus Uruguay
»Den Wahlsieg von Salvador Allende erlebte ich im Hochsicherheitstrakt eines uruguayischen Gefängnisses«, erinnert sich Miguel Ángel Olivera. Ein knappes Jahr sitzt der hagere Kämpfer der Nationalen Befreiungsbewegung Tupamaros damals bereits hinter Gittern. Die Armee hatte den linken Stadtguerillero - Codename: El Cristo - bei einem bewaffneten Aufstand gefasst. Aussicht auf rasche Entlassung hat Olivera nicht. Doch die Verfassung Uruguays gewährt das Recht, sich in ein anderes Land abschieben zu lassen - wenn denn die dortige Regierung mitspielt. Und auch wenn die chilenische Unidad Popular auf einen Wandel innerhalb der geltenden Gesetze pocht, zeigt sie sich dennoch solidarisch mit vielen lateinamerikanischen Linken, die damals eher der Idee Che Guevaras folgen und »zwei, drei, viele Vietnams« schaffen wollen.
»Für uns war Chile anfangs nicht mehr als ein Sprungbrett. Wir wollten uns von der Haft und der Folter erholen und dann weiter nach Kuba, zur Vorbereitung auf die nächste bewaffnete Mission«, sagt Olivera trocken. Anfangs schlägt den Tupamaros in Chile zudem viel Misstrauen entgegen: Sie sind schweigsam, einer asketischen Disziplin verpflichtet und sehen die Welt durch eine militärische Brille. Aber genau diese Attribute machen sie bald zu wichtigen Verbündeten Allendes. So panzern die Tupamaros das Auto des Präsidenten und stellen anfangs auch einen Teil seiner persönlichen Leibgarde. Sie spüren Spitzel des uruguayischen Geheimdiensts auf, die in Chile aktiv sind und mehr als einmal helfen sie auch, Konflikte innerhalb der regierenden Linken zu entschärfen: Am 3. November 1970, dem Tag von Allendes Amtseinführung, besetzt sein hitzköpfiger Parteikollege Carlos Altamirano ein Landgut nahe Santiago. »Doch der Großgrundbesitzer hatte eine kleine Privatarmee mit Jeeps und Maschinengewehren. Gewappnet, sich das Land zurückzuholen. Also blieb es an uns hängen, die Bauern zu bewaffnen, damit sie sich im Ernstfall verteidigen konnten.«
Nach seiner heimlichen Rückkehr nach Uruguay gerät El Cristo erneut in Haft. So erlebt er auch den chilenischen Staatsstreich am 11. September 1973 im Gefängnis. Diesmal kommt er erst 1985 frei. Bis heute hält Olivera den bewaffneten Kampf für den einzig möglichen Weg »das Imperium zu besiegen«. Nur in der Wahl seiner Mittel ist er kreativer geworden: »Im Gefängnis habe ich angefangen zu schreiben. Gedichte und Tangotexte, das sind meine neuen Waffen!«
Die Sozialwissenschaftlerin
Vânia Bambirra aus Brasilien
Die brasilianische Sozialwissenschaftlerin Vânia Bambirra geht nicht ganz freiwillig nach Chile. Nach dem Militärputsch gegen die linke Regierung João Goularts im Jahr 1964 verliert sie ihre Stelle an der Universität von Brasília und flüchtet sich bald in den Untergrund. Ihre offene Unterstützung für die kubanische Revolution und ihre Kritik an den herrschenden Umständen im eigenen Land waren gefährlich geworden. Unter dem Tarnnamen Clea Silva gelingt ihr 1966 die Ausreise nach Chile. Hier setzt sie ihre Studien fort und sorgt 1967 mit einer pointierten Analyse der Postulate Régis Debrays - dem damaligen Guru des revolutionären »Spontanismus« - für Aufsehen: »Alles deutet darauf hin, dass jede bewaffnete Bewegung, die in Lateinamerika beginnt, zunächst nicht nur mit nationaler Repression konfrontiert sein wird, sondern auch mit dem Imperialismus selbst, der versuchen wird, die Revolution zu liquidieren.«
Ab 1969 wirkt Bambirra - bereits wieder unter ihrem richtigen Namen - intensiv im Zentrum für sozioökonomische Studien (Cesos) der Universität Chile mit. Einem größeren Publikum wird sie während der Unidad Popular mit einem Artikel in der Zeitschrift »Punto Final« bekannt, in dem sie 1971 offen für Geschlechtergleichheit eintritt. »In den politischen Positionen mit größerer Verantwortung wird es schwierig sein, eine Frau zu finden, sowohl seitens der Parteien als auch in den hohen Regierungsämtern«, schreibt Bambirra, wohl wissend, dass es zu diesem Zeitpunkt keine einzige Ministerin in der Regierung Allendes gibt. Sie sieht darin eine »Fortdauer reaktionärer Werte« und fordert die chilenische Linke auf, diesem Zustand entgegenzuwirken. Eher in akademischen Kreisen besprochen werden ihre akribische Auseinandersetzung mit der kubanischen Revolution und den kapitalistischen Abhängigkeitsstrukturen Lateinamerikas. In ihrer Kapitalismuskritik kommt Bambirra der »Schockstrategiethese« von Naomi Klein um 30 Jahre zuvor, wenn sie aktuelle und noch kommende Militärputsche als epochale Übergänge vom Staat zum Markt analysiert.
Nach dem Militärputsch am 11. September 1973 flüchten Bambirra und ihre Familie in die panamaische Botschaft. Von hier aus reisen sie nach Mexiko, wo Bambirra ihren Doktor in Wirtschaftswissenschaften macht. Im Rahmen eines Amnestiegesetzes kehrt sie 1979 nach Brasilien zurück, wo sie die Lehre wieder aufnimmt und sich politisch in der Demokratischen Arbeiterpartei (PDT) und der Lokalregierung Rio de Janeiros engagiert.
Die Tänzerin und Choreografin
Joan Jara, geborene Turner, aus Großbritannien
»Ich hätte nie gedacht, dass ich mal Lateinamerika kennenlernen würde, auch nicht die große Armut, die hier herrschte. Als Europäerin hätte ich mir nie träumen lassen, das alles zu sehen.« Ihre ersten Abenteuer erlebt Joan Turner noch in der Alten Welt. Das Geschichtsstudium hängt sie an den Nagel, um eine Ausbildung als Tänzerin zu machen. Mit dem experimentellen Ensemble des deutschen Choreografen Kurt Jooss verlässt sie 1951 ihre Heimatstadt London und feiert mit dem politischen Tanzstück »Der grüne Tisch« Erfolge in ganz Europa. Sie »verliebt sich wahnsinnig« in ihren chilenischen Kollegen Patricio Bunster und folgt ihm 1954 »in ein fremdes Land, im Atlas nicht mehr als ein dünner Streifen. Das war meine Zukunft geworden«.
Arbeit findet Turner beim chilenischen Nationalballett. Bald unterrichtet sie auch an der neu gegründeten Theaterschule der Universität von Chile. Hier begegnet sie dem jungen Schauspieler Víctor Jara, der als Folksänger bald ganz Chile erobern würde - und ihr Herz. Mit ihrem Partner Jara engagiert sie sich politisch, sie wollen die kreative Arbeit aus den Universitäten heraustragen, »denn dort fehlte es einfach an Luft zum Atmen«. Turner sucht sich neue Räume, gründet eine Tanzgruppe im Stadtteil Ñuñoa. Als Ballet Popular arbeitet diese Formation später auch wieder an der Universität und beteiligt sich 1970 am Präsidentschaftswahlkampf von Salvador Allende. Während Víctor Jara zu einer Ikone der Unidad Popular wird, nutzt Turner die politische Konjunktur, um die künstlerische Ausbildung an der Akademie auf ein Publikum außerhalb der Theatersäle auszurichten. Stets ist das Ziel, die Menschen zum Mitmachen zu bewegen. Besonders gut gelingt das mit der Musik. »Das ganze Land hat damals singen gelernt.«
Turners Arbeit wird bis heute überschattet vom grausamen Tod ihres Manns, der unmittelbar nach dem Putsch 1973 inhaftiert und im Nationalstadion gefoltert und ermordet wird. In Begleitung ihrer beiden Töchter flieht sie nach England und fühlt sich »wie eine Person ohne Identität. Alles, was ich einmal war - Tänzerin, Choreografin, Lehrerin, Ehefrau - all das war nicht mehr.« 1984 kehrt Turner nach Chile zurück und ruft zusammen mit Patricio Bunster die emblematische Tanzkompanie Espiral ins Leben. Nach dem Ende der Diktatur 1990 nimmt Joan den Nachnamen ihres Mannes an. Als Joan Jara kämpft sie bis heute für die Ahndung des Mordes an Víctor und für die Erinnerung jener 1000 Tage, in denen Chile singen lernte.
Der Fotograf des Aufbruchs
Armindo Cardoso aus Portugal
Armindo Cardosos Weg von Portugal nach Chile führt über Frankreich. »Ich floh nach Paris, weil ich als Gegner der Salazar-Diktatur (1933-1974) politische Probleme hatte«, beginnt Cardoso seine Geschichte. »Ich machte die typischen Migrantenjobs, stand bei Citroën am Fließband, als im Mai 1968 die Revolte losbrach. Da wurde mir klar, dass ich überhaupt nicht wusste, was das heißt, frei zu leben.« Während die Fabriken bestreikt werden, entdeckt Cardoso sein Interesse an der Fotografie wieder. Seine damalige chilenische Partnerin überredet ihn schließlich, gemeinsam mit ihrer einjährigen Tochter nach Chile zu gehen, »dem in den 1960er Jahren demokratischsten Land Lateinamerikas«.
In Chile lernt er bei dem polnischen Antikommunisten Bob Borowicz die Kunst der Porträtfotografie. Während sich die Stimmung seines Meisters nach dem Wahlsieg der Unidad Popular rapide verschlechtert, erhält Cardoso die ersten selbstständigen Aufträge, u.a. die Dokumentation einer Reise von Präsident Allende in den Süden des Landes, wo die Regierung den Mapuche-Indígenas ihre Vorhaben umfassender Agrarreformen näherbringen will. Die Fotos machen Cardoso bekannt. Für den staatlichen Verlag Quimantú gestaltet er fortan zahlreiche Einbände, und 1972 ist er unter den Gründern der linken Wochenzeitung »Chile Hoy«. Woche für Woche bebildert Cardoso das kritische Blatt, in dem auch zahlreiche internationalistische Unterstützer*innen der Unidad Popular zu Wort kommen. »Ich war immer am Puls der aktuellen Ereignisse: Zuckerlieferungen aus Kuba, Verstaatlichungen von Fabriken oder auch Anschläge der politischen Rechten«, sagt Cardoso. In seiner Freizeit beteiligt er sich mit einigen Aufnahmen am Dreh des Dokumentarfilms »La Batalla de Chile« von Patricio Guzmán.
Die putschenden Militärs verbrennen 1973 alle Negative in den Redaktionsräumen von »Chile Hoy«. Zuvor gelingt es Cardoso, Kisten mit über 4000 Negativen im Stadtpark Quinta Normal zu vergraben. Dank der Hilfe eines französischen Kulturattachés, der sich nicht zu schade ist, selbst die Schaufel zu schwingen, erhält er das Bildmaterial einige Monate später im Pariser Exil zurück. Jahrzehnte später schenkt er die Negative der Biblioteca Nacional in Santiago. »Chile war für mich eine wichtige Schule, nicht nur in der Fotografie, sondern auch politisch«, resümiert Cardoso. Im Zuge der Nelkenrevolution kehrt er 1975 nach Lissabon zurück. »Da war mein Auge bereits geschult, um den Aufbruch Portugals in die Demokratie festzuhalten.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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