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Kommt die zweite Welle?
Corona-Fallzahlen sagen etwas über die Ansteckung aus - aber nichts über den Krankheitsverlauf
Die Öffentlichkeit folgt gebannt den neuesten Zahlen der frisch auf Sars-CoV-2 positiv Getesteten. Medien deuten jeden Anstieg als Vorläufer der nächsten Welle, Politiker erwägen Veränderungen der Hygieneauflagen. Das ist auch in Deutschland so. Für fundierte Einschätzungen und erst recht für Entscheidungen ist der Blick jedoch zu weiten: Auf die Zahl der Verstorbenen, der schwer oder leicht Erkrankten. Das Robert-Koch-Institut (RKI) erstellt tägliche Lageberichte, denen einige dieser Angaben zu entnehmen sind. Auch wenn es Ungenauigkeiten gibt, die sich etwa aus Meldeverzögerungen ergeben, sind die Zahlen doch zunächst ein Anhaltspunkt.
Schwieriger ist es, allgemeingültig zu erfassen, was nach dem Zeitpunkt der Testung passiert. In der schlechtesten Variante steht am Ende der Tod des Covid-19-Patienten. Mit Stand vom vergangenen Mittwoch waren in Deutschland 3,9 Prozent aller bestätigten Fälle verstorben, insgesamt 9280 Personen. Bis zu diesem Datum, dem 26. August, waren insgesamt 236 429 Fälle erfasst.
Noch einmal Glück hatten unter ihnen jene 34 Prozent, die zum Zeitpunkt der Testung ohne Symptome waren oder das am Ende auch blieben. Die Zahl der Genesenen ist eine weitere wichtige Größe. Sie wird meist über einen Algorithmus geschätzt, dazu zählen Fälle 14 Tage nach Krankheitsbeginn oder sieben Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Das RKI kommt hier auf 210 660 Personen. Jedoch ist dabei nicht bekannt, wie schwer die Krankheit verlief. Erfasst wurde nur die Häufigkeit bestimmter Symptome. Solche Angaben wiederum liegen aber nur für 83 Prozent der Fälle vor. Von diesen hatten 45 Prozent Husten, 38 Prozent Fieber und ein Fünftel Schnupfen, fast ebenso viele Halsschmerzen. Drei Prozent erlitten eine Lungenentzündung. Nicht bekannt ist, wie schwer diese Symptome waren und wie lang sie anhielten. Wer genaueres wissen will, muss einzelnen Studien suchen.
Bei den Genesenen gibt es wichtige Unterschiede: Ein Teil erreicht die vorherige Leistungsfähigkeit wieder. Eine andere Gruppe hat aber auch in den Folgemonaten zu kämpfen - mit körperlicher Schwäche, Atemnot, Schmerzen in Brust und Gliedmaßen, Schwindel. In internationalen Studien, vor allem aus Industrieländern, ist die Rede von bis zur Hälfte der Erkrankten, die nach Wochen oder Monaten noch nicht wieder fit sind. In Deutschland gibt es noch keine flächendeckende Nachbetreuung und Erfassung derartiger Fälle. Eine sogenannte Post-Covid-Ambulanz in Hannover versorgt diese Patienten. In Berlin haben die 30 Covid-19-Schwerpunktpraxen ein ambulantes Register zu dem Thema angeregt,
Relativ einfach lässt sich die Situation bei den Schwerkranken nachvollziehen. Stationär aufgenommen wurden bislang etwa 32 000 Infizierte. Am vergangenen Mittwoch waren in der gesamten Bundesrepublik 228 Menschen noch in intensivmedizinischer Behandlung, von denen 133 beatmet wurden. Bis zu diesem Tag war die Behandlung in etwa 16 500 Fällen abgeschlossen. Davon verstarben 4011 Erkrankte. Bei diesen Zahlen ist aber zu berücksichtigen, dass sie aus dem DIVI-Intensivregister stammen. Dorthin muss erst seit dem 16. April von jenen Krankenhäusern gemeldet werden, die Intensivbetten vorhalten.
Ein Vorteil der Kliniken für die Dokumentation der Krankheitsverläufe ist, dass die Patienten hier konzentriert sind, meist in extra Abteilungen. Das ermöglicht einen schnelleren Überblick, wie eine Studie aus 86 Krankenhäusern der Helios-Gruppe zeigt. Hierfür wurden die Daten von 1904 Covid-19-Patienten erfasst. Demnach wurden zwei von drei Intensivpatienten künstlich beatmet. Jeder dritte beatmete Intensivpatient starb, bei den übrigen Intensivpatienten war es jeder vierte. Die Ergebnisse entsprechen einer anderen Studie mit mehr als 10 000 Patienten aus insgesamt 920 Kliniken in Deutschland. Auch hier hatten Beatmungspatienten eine Überlebenschance von weniger als 50 Prozent. Von den stationär aufgenommenen Patienten ohne Beatmung starben 16 Prozent, in den Helios-Kliniken waren es 25 Prozent.
Der Verlauf der Erkrankung bei den nicht stationären Fällen ließe sich genauer durch die Auswertung von Routinedaten der Krankenversicherungen erfassen. Das geschieht bereits, allerdings laufen diese Angaben mit unterschiedlichem Tempo bei den Kassen ein. Bei den Krankschreibungen lässt sich am schnellsten eine Entwicklung erkennen. So meldete die Barmer unlängst, dass innerhalb von vier Wochen im Juni und Juli in der Gruppe der bis zu 39-Jährigen 31 Prozent mehr AU-Bescheinigungen wegen Covid-19 ausgestellt wurden als im gleichen Zeitraum zuvor. In der Gruppe ab 40 Jahren sei diese Zahl nur um ein Prozent gestiegen. Ambulante Diagnosen kommen jedoch bei den Kassen mit stärkerem Verzug an, Medikamentenabrechnungen ebenso. Gesicherte Schlussfolgerungen können die Kassen erst bis zu ein Dreivierteljahr später liefern. Natürlich sind das nicht die einzigen Quellen, aber sie gehen von den Daten von Millionen Versicherten aus.
Mit entsprechendem Wissen ließen sich am Ende nicht nur die Ressourcen des Gesundheitswesens besser planen. Auch Hygieneregeln könnten genauer angepasst werden. Vor den Gesundheitswissenschaften stehen also einige Herausforderungen. Noch ein Dämpfer zum Schluss: Aus den vorhandenen epidemiologischen Daten lässt sich kein individuelles Risiko ableiten, davor warnt auch das RKI. Und, abgesehen von jetzt wieder ansteigenden Infektionszahlen: Die Zahl der intensivmedizinischen Behandlungsfälle in den letzten zwei Monaten bildet im Verlauf eine fast schnurgerade Linie auf niedrigem Niveau. Ein ebensolches flaches Plateau zeigt sich seit Anfang Mai bei den Todesfällen. Zumindest daraus lässt sich keine jahreszeitliche Varianz der Pandemie ableiten.
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