Hinter den Büchern die Patronen
Eva Botofte lässt im Schnee von Spitzbergen die zweibeinigen Wölfe los
Die Fingerbeere ruhte am Drücker. Der Zeigefinger war verkrampft, obwohl ihr Vater sagte, dass sie nicht so hart drücken solle. Sie musste alle ihre Kräfte einsetzen, um den Kolben mit der Schulter und den Gewehrlauf mit ihrem linken Arm in der rechten Position zu halten. Der linke Arm war nicht so stark wie der rechte. Am schlimmsten war es mit der Schulter. Als der Schuss losging, kniff sie die Augen zusammen und spannte ihren ganzen Körper an. Den Rückstoß nahm sie als einen harten Schlag gegen die Stirn entgegen. Die Augenbraue war geplatzt. Sie war zehn Jahre alt, und ihr Vater sagte, sie sei jetzt alt genug, um ein Jagdgewehr mit einem guten Kaliber zu bekommen.
Ohne die Handschuhe auszuziehen, hat sie das Wohnzimmer aufgeräumt. Niemand kümmert sich um das Haus, schon ewig nicht mehr, obwohl es Staatseigentum ist. Ein Holzhaus auf Pfählen, das nicht im Morast verschwinden kann. Die Haustür ist immer noch grün, die Farbe blättert aber an den Rändern ab, und der Türgriff baumelt ein wenig. Die Außenwände sehen aus, als hätte irgendjemand sie mit einer Drahtbürste gescheuert. Die Masern des Holzes haben sich tief in die Bretter zurückgezogen. Ein Haus aus grünem Treibholz. Mitten zwischen zwei Bergmassiven. Wenn der Wind sich legt, hört man immer noch im großen Hundezwinger am Stadtrand die Schlittenhunde heulen.
Die dänische Autorin Eva Botofte erzählt von Svalbard (Spitzbergen), dem äußersten Punkt der Zivilisation auf der nördlichen Hemisphäre. Hier ist niemand richtig zu Hause; meist sind es Saisonarbeiter, Universitätsangestellte oder Touristen, die Schwierigkeiten haben, sich in der steinigen und gefährlichen Landschaft zurechtzufinden. Auf Spitzbergen wohnen 3000 Eisbären und maximal 2000 Menschen. Die Erzählungen handeln auch vom äußersten Punkt der Welt als mentalem Zustand, einem dystopischen Ort, wo das Eis schmilzt, einem Ort, von dem oder an den man flüchtet. Vor allem aber handeln sie vom Menschen als seinem eigenen Feind.
Eva Botofte, geb. 1960, ist Lyrikerin und Erzählerin. Sie studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft und veröffentlichte eine Reihe von Gedichtsammlungen. Einige Gedichte wurden ins Deutsche und Englische übersetzt, der Gedichtband »Forsætlig nat« auch ins Italienische. Eva Botofte arbeitet auch als bildende Künstlerin und lebte einige Zeit auf Svalbard. Die raue Natur, aber auch das Leben am Außenrand menschlicher Zivilisation inspirierten sie zu den erstmals in deutscher Sprache erscheinenden, expressiven Erzählungen.
Ihre Mutter ist längst tot, jetzt liegt auch der Vater auf dem Festland begraben. Und sie ist zurückgekommen. Auf unbestimmte Zeit. Als Vertreterin für einen Geologen. Es hat etwas Unangenehmes, dorthin zu ziehen, woher man ursprünglich gekommen ist. Wieder in das Elternhaus zu ziehen und die Arbeit des Vaters mit dem Kartographieren der Eigentümlichkeiten des Polargebiets fortzusetzen. Als könnte man Worte aus dem Fels hauen.
Das Haus trägt noch die Spuren von den scharfen Kanten ihrer Wanderstiefel. Sie ist sich nicht sicher, wie viele von den angeschlagenen Stellen von ihr kommen. Wenn sie mit der Hand die Sicht auf das Haus verdeckt, fließt es langsam weg. Sie prüft die Türgriffe. Es fällt ihr schwer, die Tapete wiederzuerkennen, die leere Luft über den Möbeln. Ihr Blick flackert von einem Gegenstand zum anderen. Dass so viele Sachen immer noch an ihren alten Plätzen stehen! Das Radio, das Fernglas auf der Fensterbank, der Strickkorb. Die Lampenschirme aus Stoff sind vom Staub und der Wärme der elektrischen Birnen dunkel geworden. Sie möchte jetzt duschen, hat aber keine Lust, in der Duschkabine ihrer Eltern nackt zu sein. Sie hat keine Lust, dort nackt zu sein, wo sie nackt gewesen sind. Sie möchte sich ihren Geruch nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Sie hat sich allzu lange im kleinen Flur aufgehalten, bevor sie weiter ins Haus vordringt, ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, ins Zimmer ihrer Mutter, in ihr eigenes Zimmer, das auf die Hälfte des ursprünglichen Areals geschrumpft ist. An der Wohnzimmerwand hängt das Jagdgewehr ihres Vaters. Mit dem Zeigefinger entfernt sie den Staub auf dem Lauf, spürt, wie das Korn in ihre Fingerbeere schneidet. Das Regal ist ein Blätterfall in braunen Farbtönen. Hinter den Büchern entdeckt sie die Patronenschachtel. Es sind die Patronen von damals. Kaliber 338 Winchester Magnum. Wenn sie sein Gewehr hochhebt und sich mitten in den Türrahmen stellt, ist sie immer noch der Mittelpunkt des Bildes.
Das Gewehr war schwer, und sie war sich nicht sicher, ob sie imstande sein würde, es still zu halten, wenn sie auf Schneehuhnjagd gingen. Die Schneehühner schienen sich unvorhersehbar wie tanzende Himmelstreifen zu bewegen, und wenn sie zielte, bewegte sich die Mündung des Gewehrs im eigenen Rhythmus. Es seien zutrauliche Vögel, sagte ihr Vater, und sie näherten sich fast von selber. Mit ein bisschen Übung brauche man gar nicht auf sie zu schießen. Man könne sie mit bloßen Händen fangen lernen und ihnen dann schnell den Hals umdrehen. Sie hat das Gewehr nicht bewegt, sondern den ganzen Oberkörper im Kugelgelenk der Hüfte gedreht.
Sie denkt an den Bart ihres Vaters, der sie gekratzt hat, wenn er zu nahe kam. Er sei der erste Mann in ihrem Leben, sagte er, sein Blick folgte ihrem Arm und dem Gewehrlauf, und sie wusste, dass ein Gefühl entstand, das er schon seit langem vergessen hatte. Sie kannte das Wort nicht, es existierte nicht in ihrem Wortschatz. Speichel tröpfelte aus seinem Mund in den ihrigen. Sein Gesicht leuchtete. Das Licht schien um seine Augen herum zu glänzen. Er, der alles wusste, leuchtete kurz auf, und dann war es zerstört. Sie war erleichtert, als es vorbei war.
Wenn du groß bist, kannst du Soldatin werden, sagte er, aber dann musst du zum Festland. Sie hatte nie daran gedacht, Soldatin zu werden. Sie kannte niemanden, der davon träumte, Soldat auf dem Festland zu werden. Auf dem Festland gebe es Bäume, hinter denen man sich verstecken könne, wenn der Feind käme. Daran hatte sie nie gedacht. Er sagte, dass sie mit ihrer Waffe verwachsen solle und dass die Schneehühner dieses Jahr tief flögen, so dass sie das Gewehr nicht so hoch heben solle, wie sie glaubte.
Als der Schuss fällt, weiß sie, dass sie ihn nicht getroffen hat. Den Polarfuchs mit dem grauen Frühlingspelz. Vulpes lagopus. Es war derselbe Polarfuchs, den sie früher am Tag gesehen hatte, als er in der Stadt nach Essensabfällen suchte. Abfall, der verboten ist, weil er die Eisbären anzieht. Ursus maritimus. Der kleine Wasserfall blutet im Licht der untergehenden Sonne. Es sollte nicht schwer sein, ihn vor diesem Hintergrund zu treffen. Sie hat schon sechs Patronen abgeschossen und hat jetzt nur noch zwei übrig. Mit dem schweren Gewehr ihres Vaters hat sie ein höheres Kaliber bekommen. Je größer das Kaliber, desto stärker der Rückstoß. Sie versucht sich vorzustellen, dass sie mit der Waffe verwachsen könnte, es fällt ihr aber schwer. Das erste große Tier, das sie und ihr Vater zusammen geschossen hatten, war ein Rentier. Sein Blut war dunkelrot und zähflüssig, als es sich durch den Schnee bohrte. Schwarze Punkte im Weiß. Später hatten sich Krusten am Hals des Tieres gebildet.
Die Haut an ihren Fingern bekommt Risse von der trockenen Luft und der Kälte, an ihrer Hand klebt Blut. Das Schmelzwasser kühlt ihre Finger ab. Jetzt erblickt sie den Fuchs von hinten mit dem langen, buschigen, grauen Schwanz, der hinter einem Felsvorsprung verschwindet. Sie steigt den Fjell mit dem scharf geladenen Gewehr auf dem Rücken hinab. Über Geröll und kleine Flächen mit trockener, gekräuselter Winterflechte, einen quellenden Wasserlauf entlang, der wie sie zwischen Felsstücken und den plötzlich auftauchenden Beulen und Knollen der Landschaft im Zickzack laufen muss.
Die flachen Steine sehen aus, als könnten sie jeden Augenblick vom Fjell hinabgleiten. Sie versucht langsam zu gehen, damit sie nicht stürzt. Sie könnte sich das Steißbein verletzen. Vielleicht sieht man von der Stadt aus schon ihre rote Jacke in der Talmulde, aber sie hat noch mehrere Kilometer vor sich. Dort unten werden Leute heute Abend auf sie warten. Neue Kollegen, die sie hierher zu den Steinen geholt haben, auf denen sie jetzt in alle Richtungen ausrutscht. Auf dem Fjell liegen immer noch Schneezungen und weiße Flecken, die Sonne taucht aber bald auf und wird alles tauen. Der kleine Wasserlauf wird ein Flüsschen sein, das Flüsschen ein brausender Strom. Am dunkelblauen Himmel schwebt immer noch der weiße, wollige Gebirgskamm. Als sie noch ein Kind war, pinkelte der Fuchs auf ihre Schuhe, wenn sie sie auf den Treppenstufen vergessen hatte. Einmal habe der Fuchs eine halbe Tasse Kaffee gestohlen, sagte ihre Mutter. Aber das war, bevor sie krank wurde und sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Fort von ihnen.
Als sie endlich mit dem Aufräumen des Wohnzimmers fertig ist, holt sie alle Polaroidbilder von damals hervor. Sie sehen fast alle gleich aus. Das Licht oder die Chemie hat sie im Laufe der Jahre verblassen lassen, so dass mehrere Jahrzehnte nur noch in Pastellfarben existieren. Es gibt so viele, dass sie das Sofa und den Sessel und den Tisch ganz mit ihnen bedecken muss, um einen Überblick zu bekommen. Sie möchte sowieso nicht auf den Möbeln sitzen. Und jetzt posiert sie mit ihrem Fahrrad, dem Schulkameraden und mit ihrem ersten Gewehr. Sie ist auf allen Bildern der Mittelpunkt. In ihrer Familie haben alle blondes Haar und grünblaue Augen. Und einen aufgeweckten, neugierigen Blick. Die Bilderecken nutzen sich gegenseitig ab. Sie hat immer noch die Handschuhe an. Das macht alles komplizierter. Im Bilderhaufen findet sie eine Nahaufnahme von sich selbst, ihr scheint, dass das Grün in den Augen neben der bleichen Haut leuchtet.
Ihr Vater sagte, dass er nicht mehr wüsste, wie lange die Mutter dort in ihrem Bett gesessen hatte, oder wann sie aufgehört habe, mit ihnen zu reden, aber das Zimmer kannte sie bestimmt auswendig. Auch sie wusste nicht mehr, seit wann ihre Mutter krank war und ihr eigenes Zimmer hatte. In dem Zimmer verstauten sie all das, was sie nicht mehr brauchten. Die Tapete war an den Ecken bald dunkler geworden, nur an der Wand hinter dem Bett war das grüne Zickzackmuster durch die Sonne verblasst. Das Regal mit den Büchern; ihre Mutter konnte gewiss alle Geschichten auswendig, wenn sie die Buchrücken betrachtete. Sie hatte sie alle gelesen, aber jetzt waren die Rücken mehr als genug. Auf dem Nachttisch lag das Album mit all den Bildern, aber das könne sie auch auswendig, und sie habe keine Lust, sie wieder anzusehen, sagte ihr Vater. All die Gesichter mit klaren, grünen Augen und schmalen Lippen. Das Beste an dem Album war der Ledergeruch. Es war braun mit Flecken, und so roch es auch.
Jetzt weiß sie nicht, was aus dem Album geworden ist. Jetzt, nachdem sie die Bilder herausgenommen und in einem Haufen gesammelt haben. Vielleicht hat der Vater es nach dem Tod der Mutter getan. Vielleicht hat er den Geruch von braunem Leder nicht gemocht. Hier oben gibt es keine ursprüngliche Bevölkerung. Das ist nicht wie Grönland, wo man wisse, wie man sich gegen die Verstorbenen zu schützen habe, hatte der Vater zu ihr gesagt, als sie ihn zum letzten Mal sah.
Eva Botofte:
Permafrost. Erzählungen von Spitzbergen
Aus dem Dänischen von der Autorin
Edition A. B. Fischer
112 S., geb., 18,00 €
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