Den hält niemand auf

Wie im Vorjahr bestimmt Publikumsliebling Julian Alaphilippe den Tourstart und fährt früh ins Gelbe Trikot

  • Tom Mustroph, Sisteron
  • Lesedauer: 4 Min.

Julian Alaphilippe hat seine Tätigkeit des Sammelns wieder aufgenommen. Der Franzose mit dem hervorstechenden Kinnbart hatte bereits bei der letzten Tour de France 14 gelbe Trikots und die dazugehörigen Plüschbären des Sponsors eingesammelt. Auf der Promenade des Anglais in Nizza trug ein Betreuer seines Rennstalls Deceuninck Quick Step nun den 15. Bären der Kollektion vom Siegerpodest zum Teambus. Der Bär war dabei das einzige Wesen, das unmaskiert kurz nach dem Rennen auf Nizzas Uferpromenade aufgetaucht war. Lediglich Monacos Fürst Albert, der am Vortag zum Grand Depart schnell herübergekommen war, hatte auf der VIP-Tribüne aufs Maskentragen verzichtet. Royale Privilegien eben.

Sogar Alaphilippe, sportlich so etwas wie ein König der Franzosen, hatte nach seinem Spurtsieg gegen den überraschend starken Schweizer Marc Hirschi vom deutschen Team Sunweb und der damit verbundenen Übernahme des Führungstrikots schnell das erforderliche Schutztextil wieder über Mund und Nase gespannt. Vielleicht auch, um seine Emotionen etwas zu verstecken, denn kurz zuvor waren sie beim 28-Jährigen offen ausgebrochen. Im Juni war sein Vater Jacques im Alter von 80 Jahren gestorben. Der alte Herr war leidenschaftlicher Schlagzeuger, wohl deshalb hat sich auch der Junior ein paar Drums in den Keller gestellt. Den Sieg jetzt habe er auch für seinen Vater geholt, sagte Alaphilippe später. Er zeigte in den Himmel, wo er ihn verortete, und ließ dann die Tränen fließen. Die Tour de France wurde in diesem Moment mal wieder größer als ein Radrennen. Sie wurde zur Bühne von Freud und Leid eines Menschenwesens. Das Drama des echten Lebens schrieb sich ein in dieses hochartifizielle Spektakel.

Die Entscheidung für diesen mittlerweile fünften Etappensieg bei der Tour - zwei holte er 2019 bei seiner Gelbserie, zwei weitere 2018 als späterer Bergkönig der Tour - hatte der Held dieses Tages in altbekannter Manier gesucht: Am Anstieg des Col des Quatre Chemins etwa zehn Kilometer von dem Zielstrich in Nizza beauftragte er seinen Teamkollegen Bob Jungels mit einer Tempoverschärfung im noch knapp 40 Fahrer großen Hauptfeld. Als der Luxemburger erschöpft beidrehte, brachte Alaphilippe selbst allen Dampf auf die Pedale. »Ich bin losgezogen, als hätte sich das Ziel oben auf dem Berg befunden. Ich hatte nichts zu verlieren. Ich habe gehofft, dass es reichen würde bis zum Ende ins Ziel«, sagte er später.Der Antritt mochte vom Willen, den toten Vater zu ehren, befeuert gewesen sein. Er hatte aber auch alle Ingredienzien einer Verzweiflungsattacke. Denn mehr als ein Jahr lag Alaphilippes letzter Sieg mittlerweile bereits zurück. Es war eine unerwartete Flaute, die durch die Rennpause im Lockdown noch verlängert worden war.

Jetzt aber zeigte der Franzose, dass er wieder der Alte ist. Nur Marc Hirschi, der von seinem Team trotz namhafterer Kollegen überraschend schon beim Start zum Kapitän des Tages bestimmt worden war, konnte dem Tempo folgen. Hirschi freilich hatte Alaphilippe auch aufmerksam beobachtet und dessen Beschleunigung mit nur minimaler Verzögerung kopiert. Später gesellte sich noch der Brite Adam Yates hinzu. Die Leichtigkeit, mit der dieser dem Hauptfeld enteilt war, darf man als Beleg für die allgemeine Erschöpfung im Rumpfpeloton nach dem harten Ritt durch das Bergland ringsum Nizza werten. Im Sprint des Trios ließ sich Alaphilippe dann nicht mehr überholen.

Der Etappensieg folgte einem bekannten Muster: Kommt ein nicht allzu langer, knackiger Berg im Finale, tritt Alaphilippe an und versucht sich danach ins Ziel zu retten. »Jeder weiß, dass er so gewinnt. Und jeder andere will an diesem Tag auch auf diese Art gewinnen. Julian hat es einfach getan. Er erstaunt mich immer wieder«, lobte Teamchef Patrick Lefevere das Meisterstück seines Angestellten. Das ist tatsächlich die besondere Qualität dieses Sieges. Jeder Gegner im Feld kennt Alaphilippes Stärken und Strategien und konnte auch ziemlich genau die Stelle des Antritts vorausberechnen.

Alle waren vorgewarnt, aufhalten konnte den Franzosen dennoch niemand. »Ich bin diese Etappe wie einen Eintagesklassiker gefahren«, sagte Alaphilippe. Das bedeutet einerseits, dass er beim Krafteinsatz nicht an die noch folgenden 19 Etappen der Tour de France gedacht hat. Zum Klassiker wird ein Werk allerdings aber auch durch seine Wiedererkennbarkeit. Alaphilippe machte aus einer simplen Rundfahrtetappe einen echten Klassiker. In den nächsten Tagen hat er nun Antiklassisches vor. Er will das gelbe Führungstrikot so lange wie möglich verteidigen. 2019 war ihm das überraschend lange gelungen. Noch ist offen, welche Neuerungen er in diesem Jahr liefern wird.

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