Einfach wäre uns oft lieber

Komplexe Systeme bereiten im Alltag oft Verständnisprobleme. Doch auch für die Wissenschaft sind sie eine Herausforderung

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 6 Min.

Komplexe Systeme lassen sich ganz einfach finden: Wir brauchen uns nur an die Nase zu fassen. Unser Körper, sein Knochenbau, die Organe, die hormonelle Steuerung - alles das ist ein unendlich komplexes biologisches System, das in seinen Teilen bestens aufeinander abgestimmt ist. Und wenn wir krank werden, zum Arzt müssen oder ins Krankenhaus kommen, begegnen wir dem nächsten komplexen System: dem Gesundheitswesen, eine soziale Konstruktion aus vielen Akteuren und Institution für den einen Zweck, Heilung zu produzieren.

Die belebte Welt und immer stärker auch die Welt der technischen Artefakte setzt sich aus komplexen Systemen zusammen. Die Vielfalt nimmt zu, was an sich positiv ist, aber in Krisen kann die Vernetztheit auch zum Brandbeschleuniger werden. Eine neue Widerstandsfähigkeit oder »Resilienz« ist gefragt. Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Komplexitätsforschung, die im Zuge der technischen Entwicklung wie auch der sozialen Differenzierung an Bedeutung gewinnt. Auf den Technologiegesprächen des Europäischen Forums Alpbach, einer jährlichen Veranstaltung im österreichischen Tirol, stand jetzt »Komplexität« ganz im Mittelpunkt.

Kipp-Punkte sind ein gemeinsames Merkmal

»Unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem sind von einer hohen Konnektivität geprägt«, erklärt Hannes Androsch vom AIT Austrian Institute of Technology, das die Techologiegespräche veranstaltete. Dazu gehören weltumspannende Netzwerke des Handels und der Kommunikation bis hin zu Social Media, die alle Lebensbereiche durchdringen und neue Lebensstile und Verhaltensmuster entstehen lassen. »Darüber hinaus besteht eine hohe Interdependenz zwischen vielen verschiedenen Bereichen«, erläutert Androsch. »So lässt sich beispielsweise Klimapolitik nicht ohne Digitalisierung denken, Migrationsfragen lassen sich nicht ohne grundlegende wirtschaftspolitische und ökologische Überlegungen lösen«.

Die Wissenschaft hat zunächst die »Basics« zu klären: Komplexität, so unterschiedlich sie sich darstellt, ist durch bestimmte Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Dazu zählt die Existenz von »Kipp-Punkten«, mit denen das System in einen neuen Zustand gerät und der sich nicht mehr revidieren lässt. Im Klimasystem gilt als ein solcher ökologischer Kipp-Punkt das Auftauen der Permafrostböden in Russland und Kanada, was riesige Mengen an klimawirksamem Methangas in die Atmosphäre entlassen würde. Andere Komplex-Elemente sind »Kaskadeneffekte« - bei dem sich ein Schneeball beim Herabrollen zur Lawine auswächst - oder »nichtlineare Veränderungen«, wie sie aktuell in der Corona-Pandemie zu beobachten sind.

Die neue Unübersichtlichkeit führt zu Ungewissheit und Unsicherheit. Sie erschwert auch die Steuerung von komplexen Systemen durch politische Entscheidungen. Benötigt werden neue Methoden, um komplexe Systeme erfassen und analysieren zu können. Für diesen jungen Wissenschaftszweig der Komplexitätsforschung wurde bereits vor einigen Jahren der »Complexity Science Hub (CSH) Vienna« ins Leben gerufen, geleitet von Stefan Thurner, Universitätsprofessor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien.

Als eine wichtige Errungenschaft der Komplexitätsforschung bezeichnet Thurner die Erkenntnis, wie wichtig sogenannte »Skalierungsgesetze« sind. »Wird ein komplexes System größer, gibt es oft typische Veränderungen der Eigenschaften, etwa wenn man die Zahl der Einwohner einer Stadt und das Einkommen der Menschen vergleicht«, erklärt Thurner. Je größer eine Stadt ist, umso höher ist im Schnitt auch das Pro-Kopf-Einkommen, und zwar höher, als es ein linearer Zusammenhang erwarten ließe. Umgekehrt verhält es sich beim Energieverbrauch: »Wird eine Stadt doppelt so groß, braucht man nicht doppelt so viel Energie für ihre Versorgung, sondern deutlich weniger.« Diese Einsicht erlaube einen völlig neuen Umgang mit Städtebau und Urbanisierung, eine zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Thurner: »Die innovativen Erkenntnisse im Bereich Urbanisierung der letzten Jahre kommen aus der Komplexitätsforschung.«

Als Fernziel haben die Wiener Komplexitätsforscher im Auge, die gesamte österreichische Wirtschaft in einem Simulationsmodell abzubilden. Aus den Computerberechnungen könnten dann unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Etwa, welchen systemischen Wert ein einzelnes Unternehmen für eine bestimmte Region hat, welche Folgen die Ansiedlung eines neuen Produzenten für die Konkurrenz und die Kommune haben würde, oder wie einzelne Wirtschaftszweige von Zoll- oder Steuererhöhungen betroffen wären.

Als ersten Testlauf hat der CSH-Forscher Peter Klimek mit Kollegen ein Rechenmodell konstruiert, das auf einem Ansatz der Physik, der sogenannten »Linearen Widerstandstheorie«, beruht. Diese untersucht, wie etwa magnetische Materialien reagieren, wenn sie von einem starken externen Magnetfeld beeinflusst werden. In ähnlicher Weise wird auch die Krisenanfälligkeit einer Wirtschaft durch äußere Disruptionen getriggert. »Durch die Störung entsteht ein Ungleichgewicht, das das System erst nach einiger Zeit überwindet«, stellten die Wiener Forscher fest. Das mathematische Modell wurde mit Daten von 56 Industriesektoren aus 43 Ländern zwischen den Jahren 2000 und 2014 gefüttert. Die Berechnungen zeigten, wie ein Schock wellenartig das ganze System durchläuft und allen wechselseitigen Verbindungen folgt. Nach Aussage der Forscher macht dieses komplexe Muster verständlich, »warum es nach der Finanzkrise 2008/09 so lange dauerte, bis alle Branchen wieder zur Normalität zurückfanden«.

Gerade die neuen Möglichkeiten der Datennutzung durch »Künstliche Intelligenz« bergen das Versprechen, der Komplexität ihre evolutiven Geheimnisse abzulauschen. »Die neue rechnergestützte Sozialwissenschaft bietet unglaubliche Möglichkeiten«, war die Botschaft von Alex Pentland auf der Alpbach-Konferenz. Pentland, einer der meistzitierten Computer-Wissenschafter, leitet die Labors für »Connection Science« und »Human Dynamics« am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. Er hatte schon in den 1980er Jahren Methoden entwickelt, um das Verhalten von Menschen anhand realer Daten zu untersuchen. Eingesetzt wurden dafür sogenannte »Soziometer«, die mithilfe von Sensoren das Leben von freiwilligen Versuchspersonen, insbesondere deren Verhalten und Sozialkontakte, aufzeichneten. Heute werden Mobiltelefone für diese Aufgabe eingesetzt.

Aus diesen Individualdaten lassen sich nach Pentlands Einschätzung auch Erkenntnisse für die Gestaltung sozialer Prozesse gewinnen. »Es ist das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass wir genug über uns selbst zu sehen imstande sind, um hoffen zu können, tatsächlich soziale Systeme aufzubauen, die qualitativ besser funktionieren als die Systeme, die wir immer hatten«, meint der MIT-Professor. Dabei geht es ihm nicht um Fremdsteuerung nach dem Muster von Orwells »Big Brother«, sondern um die Etablierung eines sozialen Systems, »das durch Rückkopplungen ständig Echtzeitwissen über den Erfolg oder Misserfolg von Maßnahmen liefert«. Eine neue Version von Adam Smiths »unsichtbarer Hand«, die für die Koordinierung der Gesellschaft sorgt. Der selbstbestimmte Umgang mit diesen Mikrodaten soll Pentland zufolge eine »neue Datenwelt ermöglichen, eine Welt, die fairer, effizienter und inklusiver ist und mehr Chancen als je zuvor bietet«. Komplexer, aber doch zuträglicher für alle.

Interdisziplinäre Ansätze müssen stärker gefördert werden

Die gewachsene Komplexität muss nach Meinung von Helga Nowotny auch in das Wissenschaftssystem, vor allem die Hochschullehre, zurückwirken. Die Soziologin, die sich als frühere Präsidentin des Europäischen Forschungsrates mit der Wissenschaftspolitik auskennt, verweist auf »zwei, aus meiner Sicht dringend notwendige Änderungen«: Zum einen die Erweiterung des Lehrhorizonts durch verstärkten Einsatz digitaler Lehrangebote, die an anderen Unis schon produziert worden sind.

Zum anderen verlangt Nowotny einen Schub in Richtung Interdisziplinarität. »In den Hochschulen müssten sich einige Lehrende zusammenschließen, um die Studierenden zu motivieren, gemeinsam und über disziplinäre Grenzen hinweg gut ausgearbeitete Problemstellungen in Angriff zu nehmen«. Dies erfordere neben kluger Vorbereitung auch organisatorische Flexibilität und volle Unterstützung von Seiten der Universitätsleitung. Der »Complexity Science Hub Vienna« habe dies in der Pandemie demonstriert. Aber es bleibe natürlich nicht bei einem Virus und seinen komplexen Folgen, hebt Nowotny hervor: »Die Anzahl der Herausforderungen, die nur mithilfe der Wissenschaft zu bewältigen sind und nach einem wahren Interdisziplinaritätsschub verlangen, ist in der Postcoronazeit enorm groß«.

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