Ungleichheit im Finanzmarktkapitalismus

Angesichts des der Corona-Pandemie und ihrer sozialen Folgen hat die Verteilungsfrage an Bedeutung gewonnen

  • Christoph Butterwegge
  • Lesedauer: 7 Min.

Im digitalisierten Finanzmarktkapitalismus bildet der Klassengegensatz von Kapital und Arbeit zwar weiterhin die Kernstruktur der sozioökonomischen Ungleichheit. Der ihn teilweise überlagernde Widerspruch zwischen einer zunehmenden und sich verfestigenden Armut sowie einem exorbitanten Reichtum hat sich aber derart verschärft, dass es bisweilen scheint, als habe sich der Arm-Reich-Gegensatz vom Klassenantagonismus gelöst und sozialstrukturell verselbstständigt. Wegen der Covid-19-Pandemie, der sozialen Kollateralschäden des Lockdowns sowie der von ihm verursachten oder zumindest verschärften Rezession hat die Verteilungsfrage in jüngster Zeit noch an Bedeutung gewonnen. Wie es scheint, sind die Reichen zuletzt reicher und die Armen zahlreicher geworden.

Wie Vermögen verteilt sind

Ungleichheit beschränkt sich im Finanzmarktkapitalismus nicht darauf, dass die Gesellschaftsmitglieder unterschiedlich viel besitzen oder unterschiedlich hohe Einkommen haben, sondern hinterlässt fast in sämtlichen Lebensbereichen deutliche Spuren. Dort zeigt sich, dass die sozialen Klassen und Schichten unterschiedlich hohe Gesundheitsrisiken, unterschiedlich gute Bildungschancen sowie unterschiedlich angenehme Wohnmöglichkeiten haben. Ausschlaggebend dafür bleiben jedoch die Verteilungsverhältnisse, denen hier unsere Hauptaufmerksamkeit gilt.

Wenn die Ungleichheit in der politischen, Medien- und Fachöffentlichkeit überhaupt thematisiert wird, ist diese zumeist auf die Einkommensverhältnisse fixiert, obwohl sie erheblich weniger relevant und aussagekräftig sind als die Vermögensverhältnisse. Das war der historischen Tendenz nach zwar schon immer so, diese hat sich aufgrund des Finanzialisierungsprozesses aber weiter verstärkt.

Berücksichtigt werden muss nicht bloß die Quantität des Vermögens, sondern auch seine Qualität. Letztlich entscheidet die Struktur des Vermögens darüber, welche Handlungs- und Entscheidungsspielräume es seinem Eigentümer bietet. Denn selbst viel Bargeld, das unter dem Kopfkissen, im Kleiderschrank oder auf dem Dachboden gehortet wird, verleiht seinem Besitzer keine Macht über andere Menschen, wohingegen der Besitz von Unternehmen oder Unternehmensanteilen (Aktien) dem Kapitaleigentümer ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Über die genaue Verteilung des Produktivvermögens ist hierzulande so gut wie nichts bekannt, obwohl diese Vermögensart die Sozialstruktur der Gesellschaft entscheidend prägt. Die kapitalistischen Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse erschlössen sich nur, wenn mehr über die entsprechenden Vermögensbestände bekannt wäre.

Selbst die CDU/CSU-FDP-Koalition unter Angela Merkel als Bundeskanzlerin kam nicht umhin, die steigende Ungleichverteilung des Vermögens im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht zu dokumentieren: Verfügten die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung danach im Jahr 1998 über 45 Prozent des privaten Nettovermögens, waren es im Jahr 2003 bereits 49 Prozent und im Jahr 2008 sogar fast 53 Prozent. Dagegen musste sich die ärmere Hälfte der Bevölkerung in den Jahren 1998 und 2003 mit drei Prozent und im Jahr 2008 mit bloß noch einem Prozent begnügen. Wie im Fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erneut dokumentiert, zeigt sich die Verteilungsschieflage vornehmlich beim Vermögen. Während die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung laut dem Regierungsbericht 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens besaßen, kam die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf ein Prozent.

Auch vor den Vermögenden selbst macht die ausgeprägte sozioökonomische Polarisierungsdynamik nicht halt. Vielmehr spaltet sich diese Gruppe in Reiche, sehr viel Reichere und Hyperreiche. Vor allem das Produktivvermögen konzentriert sich zunehmend bei den Letzteren, die meistens auch große Erbschaften machen. Stellt man die statistische Unsicherheit bei der Erfassung von Hochvermögenden und ihres Vermögensreichtums in Rechnung, dürfte die reale Ungleichheit noch größer sein, als es die verfügbaren Daten erkennen lassen.

Verteilungsforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) haben frühere Untersuchungsergebnisse im Rahmen eines Forschungsprojekts für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aktualisiert. Dabei griffen sie auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zurück, nahmen eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vor und bezogen die Reichenliste eines Wirtschaftsmagazins ein, um auch Hyperreiche im Rahmen dieser Sonderauswertung zu berücksichtigen. Demnach entfallen heute 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens.

Aufgrund der neuen Untersuchungsmethode stieg der auf Basis regulärer SOEP-Daten berechnete Gini-Koeffizient von 0,78 auf 0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. 0,83 entspricht fast dem US-amerikanischen Vergleichswert, der üblicherweise mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.

Zwar fiel die Vermögenskonzentration noch höher als bisher dokumentiert aus, die Wissenschaftler*innen des DIW selbst wiegelten aber hinsichtlich der politischen Konsequenzen ihrer Forschungsergebnisse eher ab. Obwohl die Autor*innen ohne falsche Bescheidenheit für sich in Anspruch nahmen, den »blinden Fleck im Bereich sehr hoher Vermögen« beseitigt zu haben, fehlte es der nach Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse im Sommerloch ausgebrochenen Verteilungsdiskussion daher an Biss. So verwarfen sie die Forderung nach Wiedererhebung der Vermögensteuer wegen des angeblich zu hohen administrativen Aufwandes für die Erhebung und der möglichen Ausweichreaktionen davon Betroffener. Als würde auch nur ein Unternehmer, der diese Bezeichnung verdient, sein Gewinnstreben für den Fall einbüßen und sich als Privatier zur Ruhe setzen, dass er Vermögensteuer entrichten müsste!

Armut als Kehrseite des Reichtums

Seit der Vereinigung von BRD und DDR driften Lohn- und Kapitaleinkünfte immer stärker auseinander. Die hohen Zuwachsraten der Gewinneinkommen gingen zulasten der Lohneinkommen, deren Anteil am Volkseinkommen rückläufig war. Nach dem 3. Oktober 1990 erreichten nur ganz wenige Ostdeutsche den Hocheikommensbereich, dessen Anteil am Volkseinkommen dadurch zunächst erheblich sank, während die untere Hälfte einen Zuwachs verzeichnete. Somit bewirkte die langsame Annäherung des ostdeutschen Einkommens- und Ungleichheitsniveaus an das westdeutsche eine vorübergehende Verringerung der Ungleichheit zwischen beiden Landesteilen.

Das gesamtdeutsche Ungleichheitsniveau sank, bis ab Mitte der 1990er-Jahre die Angleichung nachließ, sodass die Ungleichheit in Gesamtdeutschland wieder stieg. Seither hat eine »gigantische Umverteilung zugunsten der Kapitaleinkünfte« (Heinz-J. Bontrup) stattgefunden. Denn die Lohnquote erreichte im Jahr 2007 mit 63,6 Prozent einen Tiefstand und erholte sich bis zum Jahr 2017 nur auf 68,5 Prozent. Obwohl die Anzahl der abhängig Beschäftigten im Jahr 2019 auf einen Rekordwert stieg, war die Lohnquote nicht höher als zur Jahrtausendwende.

Ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung verfügen laut DIW-Angaben über kein nennenswertes Vermögen. Sie leben gewissermaßen von der Hand in den Mund und kommen in einer pandemischen Krisensituation nicht einmal wenige Wochen ohne ihr reguläres Einkommen aus, ohne existenzielle Not zu verspüren. Nach den Maßstäben der Europäischen Union galten im Jahr 2019 hierzulande über 13,3 Millionen Menschen als von Einkommensarmut betroffen oder bedroht. Sie hatten weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1074 Euro im Monat entsprach. Mit 15,9 Prozent erreichte die Armuts(risiko)quote einen Rekordstand im vereinten Deutschland, obwohl sie in Ostdeutschland nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns gesunken war. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose (57,9 Prozent), Alleinerziehende (42,7 Prozent) und Nichtdeutsche (35,2 Prozent) auf. Kinder, Jugendliche und Heranwachsende waren ebenfalls stark betroffen, während das Armutsrisiko der Senior*innen seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt.

Sind junge Menschen manchmal jahrzehntelang im Bereich des Wohnens, der Gesundheit und der Freizeitgestaltung sowie von Bildung und Kultur benachteiligt, wird armen Senior*innen der Lohn für ihre Lebensleistung verweigert. Angehörige dieser Altersgruppe laufen überdies Gefahr, wegen der mehr als bescheidenen Grundsicherungsleistungen bis zu ihrem Tod sozial ausgegrenzt zu werden und isoliert zu bleiben. Seit die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum 1. Januar 2003 eingeführt wurde, hat sich die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, trotz einer strengen Bedürftigkeitsprüfung mehr als verdoppelt. Ende 2019 waren es neben über 523 000 dauerhaft voll Erwerbsgeminderten, die als Menschen mit schweren Behinderungen ein sehr hohes Armutsrisiko haben, bereits fast 562 000 Senior*innen, die Leistungen der Grundsicherung erhielten.

Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass sich ältere Menschen damit schwertun, diese Transferleistung - früher hieß sie Fürsorge bzw. Sozialhilfe - überhaupt zu beantragen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie irrtümlicherweise den (bis zu einem Jahreseinkommen in Höhe von 100 000 Euro ausgeschlossenen) Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder bzw. sogar auf ihre Enkel fürchten. Kein Wunder also, dass es im Dezember 2018 bereits nicht weniger als 1 093 119 Ruheständler/innen gab, die einen Minijob hatten, darunter 195 513 Personen, die 75 Jahre oder älter waren!

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