Der Mann mit den Kernkompetenzen

Stark am Berg und guter Zeitfahrer: Lennard Kämna hat das Potenzial zum großen Rundfahrer - sein Etappensieg schürt Hoffnungen

  • Tom Mustroph, Méribel
  • Lesedauer: 4 Min.

Entspannt begann Lennard Kämna den ersten Morgen, an dem er sich Tour de France-Etappensieger nennen durfte. »Ich glaube, das Team ist viel mehr erleichtert als ich über diesen Sieg«, meinte der 24-jährige Radprofi lachend und wies auf die fröhlichen Betreuer seines Rennstalls Bora. »Ich kam schon her mit dem Ziel, eine Etappe zu gewinnen. Aber ich habe mir nicht solchen Druck gemacht und wollte von Tag zu Tag schauen«, sagte er. Das wirkte bei dem besonnenen Norddeutschen nicht einmal wie eine Floskel, sondern wie eine simple Aussage, gerade und direkt wie eine Kaimauer.

Ähnlich geradlinig hatte er auch am Dienstag sein Tagwerk verrichtet. Er ging wie geplant in die Fluchtgruppe des Tages. Teamkollege Daniel Oss unterstützte ihn dort den ganzen Tag. »Seine Arbeit hat meine Beine geschont«, zollte der spätere Etappensieger seinem Begleiter Lob. Mit geschonten Beinen konnte er dann auch den ersten Antritt von Giro-d’Italia-Sieger Richard Carapaz parieren. Danach guckte er sich den Rivalen aus - und hängte ihn am vorletzten Berg sogar ab.

Auf einen Sprint wollte er es diesmal nicht ankommen lassen. Das war eine Lehre von der 13. Etappe. Da war Kämna ebenfalls vorn, wurde aber vom Kolumbianer Daniel Martinez noch überspurtet. Nun ging es für den Flachländer von der Waterkant wieder gegen einen Andenbewohner, einen höher Dekorierten sogar. »Daran habe ich gar nicht gedacht, dass er Giro-Sieger ist. Man muss hier jeden Gegner ernst nehmen, egal, welchen Namen er hat, und man muss sehen, wie man ihn abhängen kann«, analysierte Kämna genau so nüchtern, wie er zuvor seinen Gegner stehengelassen hatte.

Jetzt ist er also Tour-Etappensieger, der erste Deutsche, dem das in diesem Jahr gelungen ist. Und weil es eine Bergetappe war, schießen schnell die Illusionen in die Höhe, hier könnte eine neuer Jan Ullrich unterwegs sein. Denn Talent hat Kämna jede Menge. »Er ist gut am Berg und kann gut Zeitfahren. Das hat man jetzt gesehen«, meinte sein Teamchef Ralph Denk mit unüberhörbarem Stolz. Zeitfahren und Berge schnell hinauffahren sind die Kernkompetenzen von Rundfahrern. Hat Kämna das Zeug dazu, aufs Tourpodium zu kommen? »Ihr solltet nicht immer davon reden, was er werden kann, ob er der neue Jan Ullrich sein könnte. Er ist doch schon jetzt etwas, hat eine Tour-Etappe gewonnen«, meinte Simon Geschke mit leichtem Grimm in der Stimme. Der Berliner war mit Kämna in der Fluchtgruppe, wurde Tagesfünfter, und weiß aus eigenem Erleben, wie sich ein Etappensieg bei der Tour anfühlt, und dass das tatsächlich schon etwas Besonderes ist.

Bei Kämnas Rennstall tritt man ebenfalls kräftig auf die Euphoriebremse. »Wir werden sehen, ob er ein Klassementfahrer wird für einwöchige oder dreiwöchige Rundfahrten. Vielleicht wird er auch ein guter Fahrer für die Ardennenklassiker. Wir werden ihn Schritt für Schritt entwickeln«, meinte Boras Teamchef Denk.

Kämna selbst sieht sich schon als potenziellen Klassementfahrer. Auch er will aber mit Bedacht vorgehen. »Ob es für drei Wochen reicht, sehen wir in den nächsten Jahren. Jetzt freue ich mich erst einmal darüber, dass ich auch aus Fluchtgruppen heraus auf Etappenjagd gehen kann«, sagte er.

Der Mann, der bei der Tour seinen 24. Geburtstag feierte, geht mit einer Mischung aus Konzentration und Gelassenheit an seine nächsten Aufgaben. Diese Haltung fiel ihm nicht einfach. Schon früh galt er als großes Talent, wurde Juniorenweltmeister im Zeitfahren und U23-Weltmeister im Straßenrennen. Bereits mit 20 Jahren kam der erste Profivertag. Die große Karriere war vorgezeichnet. Dann aber plagten ihn Verletzungen und er verlor die Lust am Radsport. »Ich hatte 2018 viel mit gesundheitlichen Problemen zu tun, bin von Arzt zu Arzt gelaufen. Irgendwann kam der Moment, an dem ich mir sagte, ich brauche eine Pause und muss auch meinen Kopf resetten, richtig frisch sein, um wieder voll angreifen zu können«, erzählte er vor einem Jahr. Sein damaliges Team Sunweb gestattete Kämna die Rennpause und den Besuch einer Sportpsychologin. »Das hat mir geholfen«, berichtete er.

Jetzt scheint er in sich zu ruhen. In seinem neuen Team allerdings gibt er den Spaßvogel. »Nach der Rennkarriere kann er Comedian werden«, sagte Mannschaftskollege Max Schachmann über ihn. Im Rennen ist er ein ganz scharfer Angreifer. Nach den errungenen Bergpunkten am Dienstag rückt jetzt sogar das gepunktete Trikot des Bergkönigs in seinen Blick. Kein Mangel an Zielen also. Ein Jan Ullrich übrigens gewann dieses Bergtrikot nie.

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