Handwerk, Höhlen, Hochsitze

Jana Volkmann lässt ihre Heldin im Wald verloren gehen und etwas anderes finden

  • Lesedauer: 9 Min.

So viele Handwerker und keiner repariert vor der eigenen Haustür«, hatte Milo gesagt. Tatsächlich hatten sich alle schon so sehr an die wacklige Stufe gewöhnt, dass sie ihnen nicht mehr kaputt erschien. Auch für Judith gehörte sie an diesen Ort, ohne wacklige Stufe wäre er nicht derselbe. Genauso war die Werkstätte von der Tür geprägt, die man mit dem ganzen Körper öffnen musste, weil sie so viel Widerstand leistete. Wenn man allerdings zu viel Kraft aufwendete, flog sie mit unerwartetem Schwung auf. Stufe und Tür hatten sich gegen neue Kunden verschworen. Manche stolperten erst hinunter und dachten daraufhin, die Werkstatt sei zugesperrt. Andere traten mit so viel Elan ein, dass sie fast auf der anderen Seite des Raumes landeten, mit Staunen und Schrecken im Gesicht. Manche fluchten. Milo nahm das zur Kenntnis, mehr nicht. Er hatte schon zu viel mit Menschen erlebt, als dass ihn Kundschaft aus dem Konzept bringen könnte.

Momentum, dachte Judith jedes Mal, wenn sie am Morgen durch die Tür schwang. Ein Übergangsritual, um ja nicht zu nahtlos von der einen in die andere Welt zu wechseln. Wenn die Feilen und Hobel, Pinsel und Schnitzeisen ihr zur Begrüßung zugenickt hätten, wäre sie nicht weiter verwundert gewesen. Als Erstes setzte sie Wasser auf und kochte Tee. Die stehende Säge sah ihr erwartungsfroh zu. Sie war als erste an der Reihe, es war neues Holz gekommen, und neues Holz wurde als erstes zu kleinerem neuen Holz verarbeitet. Dann ging der Kreislauf weiter, einmal durch die gesamte Werkstatt, von Maschine zu Maschine, von grob zu fein und schließlich von fein zu hübsch.

Jana Volkmann

Judiths Lieblingswort ist Akribie: Sie ist Tischlerin, und was sie mit den Händen herstellt, gelingt. Holzarten erkennt sie am Geruch. Menschen dagegen sind ihr ein Rätsel. Ob Silvester in Berlin oder ein Sonntagsfrühstück in Wien mit ihrer Freundin Lin - nie ist sie so einsam wie in Gesellschaft anderer. Dann steigt sie allein auf ein Schiff und alles verändert sich. Ein Ereignis, das andere als Katastrophe bezeichnen würden, ist für Judith die beste Gelegenheit, von vorn anzufangen.

Zwischen Wien und Bratislava spielt dieser Roman über die Schönheit des Zufalls, über Einsamkeit - und über Komplizenschaft.

Jana Volkmann, geboren 1983 in Kassel, lebt als freie Autorin und Journalistin in Wien. Sie studierte in Berlin Europäische Literaturen und arbeitet derzeit an einer Dissertation über Hotels in der Gegenwartsliteratur. Sie schreibt Essays und Literaturkritik u. a.

für den Freitag, Tagebuch, neues deutschland und den Standard. Zuletzt erschienen »Das Zeichen für Regen« (Roman, 2015) und »Fremde Worte« (Erzählung, 2014) in der Edition Atelier. Mit der Kurzgeschichtensammlung »Schwimmhäute - 26 Metamorphosen«, Edition Periplaneta, gab sie 2012 ihr literarisches Debüt.

Warme Hände waren das Wichtigste, sonst konnte man das mit der Präzision sofort vergessen, und Judith war immer die Erste, die die filigranen Arbeiten übernahm, die kleinen Sachen, bei denen man sich keinesfalls verhobeln durfte. So viel wie möglich arbeitete sie händisch. Milo war Geld halbwegs egal, dennoch hielt ihn etwas davon ab, den Betrieb nach und nach zu automatisieren und auf Computertechnologien umzustellen - so wie andere das machten, die dann am Tagesende mit sauberen und splitterfreien Fingern heimgingen, weil sie hauptsächlich programmiert hatten und nur sehr wenig gesägt, und noch weniger gefräst. Der Rucksack wanderte in einen toten Winkel unter der Werkbank, die Judith mehr oder weniger allein gehörte, und machte es sich im Sägemehl bequem. Judith setzte sich mit ihrem Tee an Milos Schreibtisch unter dem Fenster. Dass die Werkstatt im Souterrain lag, hielt Judith für mit das Beste an ihrer Arbeit. Von hier hatte man einen einmaligen Blick auf die Stadt, aus einem so ungewohnten Winkel, dass der Sehsinn ihn nicht mehr automatisch geraderücken konnte. Draußen lief ein Paar glänzend schwarzer Stiefel mit flachem Absatz vorm schmutzigen Fensterglas entlang. Es wurde immer geschäftiger auf der Straße. Ein zotteliger Hund schaute kurz zum Fenster hinein, roch an dem Gitter davor und trabte weiter, einem ungeduldigen Paar Nike Air Max hinterher. In ein paar Minuten würde sie Milos Platz räumen und an ihren eigenen gehen müssen.

Einige Briefe lagen noch verschlossen auf der Tischplatte verteilt. Es war schwer, nicht auf die Absender zu schielen. An der feindseligen Schreibmaschinenschrift erkannte sie aus dem Augenwinkel, dass das meiste Amtspost sein musste. Manche Holzarten ließen sich lesen wie Braille. Sie strich über den Tisch, fuhr mit den Fingerspitzen die Maserung entlang bis zu ihrem Ende, eine lange gerade Straße Richtung Rand der Welt. Sie fegte eine Büroklammer darüber hinaus und schob sie mit der Stiefelspitze weiter, bis in einen Spalt im Parkett hinein. Dort unten, in den Grundfesten des Hauses, würde sie wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit überdauern, selbst wenn noch an diesem Tag der Dachstuhl Feuer fangen und alles bis zur Werkstatt niederbrennen würde.

Milo stellte eine Pappkiste auf Judiths Werkbank ab und sah sie an, als wollte er sich dafür entschuldigen. Wie immer wartete er, bis jemand anderes etwas sagte, ehe er zu sprechen begann.

»Was ist das?«, fragte Judith.

»Arbeit. Ohne Witz. Mieser Auftrag, aber ganz okay bezahlt. Also eigentlich wie immer, nur andersrum. Lautet: Bitte die zerbrochenen Möbel restaurieren. Und Susan Sontags Schreibtisch gleich ganz ersetzen, der ist nämlich in der Mitte durchgebrochen und gesplittert, ist nicht zu retten. Kannst du das machen? Wenn du das nämlich nicht kannst, kann’s wahrscheinlich niemand. Jedenfalls niemand von uns. Müsste ich dann jemand anderen empfehlen für den Job, kann man nichts machen.«

»Das ist kein normaler Job.«

»Nein. Wir machen das trotzdem, hab ich gesagt. Geld ist Geld. Und Spezialisten gibt’s nicht für so was, beziehungsweise ist da jeder Spezialist, der weiß, wie man was leimt.«

»Ich weiß, wie man was leimt.«

»Und wie man was restauriert.«

»Ich bin genau dein Mann, Milo.«

»Dann weiß ich nicht, worüber wir hier noch sprechen sollen, schau es dir an.«

Judith schaute mit den Händen; kramte sich mit vorsichtigen Fingern durch die Kiste. Die einzelnen Stücke waren in Zeitungspapier gewickelt, jedes Paket gab ein geschrumpftes Möbelstück frei. Im Grunde sahen die Möbel ganz gewöhnlich aus; wenn man sie mit dem richtigen Objektiv vor einem neutralen Hintergrund fotografieren würde, wären sie nicht von Menschenmöbeln zu unterscheiden. Sie konnte nicht aufhören, sich über die Hobbys anderer Leute zu wundern.

In einem Briefumschlag fand sie Fotos berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller an ihren Arbeitsplätzen und die detaillierte Skizze einer Art Puppenhaus, in dem all diese Räume unter einem Dach versammelt waren. Der alte Traum von einer Künstlerkommune, praktischerweise ganz ohne Kommunarden.

»Klar, übernehme ich«, sagte sie. »Was ist mit dem Haus dazu?«

»Habe ich noch im Wagen. Sieht eigentlich ordentlich aus, hat sogar Parkettfußböden und richtige Tapete.«

Milo war ein weiser Mann und ein guter Geschäftsmann. Er sagte nie Nein zu einem Auftrag, selbst dann, wenn sich viele Leute in die Werkstatt verirrten, die nicht wussten, dass sie nicht einmal auf der Suche nach einem Tischler waren oder die den Unterschied zwischen Bau- und Möbeltischlern nicht kannten, oder dass man fürs Restaurieren streng genommen eine richtige Ausbildung braucht. Er konnte viel, was er nicht konnte, improvisierte er. Wenn etwas schiefging oder er auf halbem Wege merkte, dass er für die jeweilige Aufgabe nicht das richtige Gerät hatte oder nicht das richtige Wissen, entschuldigte er sich. Viele der Stammkunden kamen aus Mitgefühl wieder. Oder weil sie von Milo gemocht werden wollten, alle wollten von Milo gemocht werden, man spürte bereits an seinem festen warmen Händedruck, dass er ein Freund sein konnte, wenn er wollte. Andere kamen nie wieder, wenn sie den Laden einmal verlassen hatten, das lange Gesicht voran. Die gehen jetzt einem Regalkonfigurator auf die Nerven, sagte er dann. Handwerk war ein sehr persönliches Geschäft, erst recht Holzhandwerk. Entsprechend oft war man persönlich beleidigt, wenn man aus der Werkstatt ging. Das galt für alle, für die Kundschaft wie für die Angestellten, nur Milo war nie persönlich beleidigt, ihn beleidigte nur der Zustand der Welt und die Verkommenheit der Menschheit.

Erst mal sortieren, dachte Judith und suchte sich in der Werkstatt ein paar Kartons zusammen, die sie mit den Namen der Schriftsteller versah. Dann schrieb sie alle Einzelteile, die sie hatte, auf eine Liste, verglich sie mit der Skizze und ordnete sie den Leuten zu. Neben Susan Sontags entzweitem Schreibtisch gab es einige Stühle in ähnlich schlechtem Zustand und manche Möbel fehlten ganz. Die Telefone sahen alle identisch aus, ungeachtet der Epoche und des Herkunftslandes der Bewohner. Was für ein Durcheinander es gäbe, wenn Ingeborg Bachmanns Telefon in Adolfo Bioy Casares’ Büro läuten würde. Noch schlimmer waren die zwei überzähligen Wählscheibentelefone, für die sie extra eine Schachtel mit der Aufschrift »Anonym« versehen musste. Puppenhäuser sollten Keller und Dachböden haben für solche Fälle, dachte Judith, was für ein Konstruktionsfehler. Aus einem Zahnstocher und etwas Watte bastelte Judith einen winzigen Staubwedel und machte sich ans Werk. Es war auch kein knie- oder allenfalls hüfthohes Puppenhaus, sondern eines, bei dem man bequem im Stehen in die oberste Etage schauen konnte. Für etwas so Kleines war es viel zu groß. Der Begriff Puppenhaus war vollkommen falsch für dieses verkleinerte Habitat, in dem es alles gab, außer Puppen. Für Kinder musste so etwas ungeheuer langweilig sein. Es war eindeutig der ernsthaften Formstrenge eines Erwachsenengehirns entsprungen und bildete eine Erwachsenenwelt ab, eine, in der gearbeitet, geraucht und getrunken wurde, wo viel gelitten wurde, gelacht, geklagt und wenig gespielt. Wenn überhaupt gespielt wurde, dann um Geld oder Ehre. Judith würde sich ein neues Wort einfallen lassen müssen, aber dafür war noch Zeit; möglicherweise kam ihr während der Arbeit eine Idee. Vielleicht war es einfach ein Hausmodell oder Modellhaus, so ähnlich wie Architekten es anfertigten. Den Gedanken, dass sie unter Umständen doch den Beruf verfehlt hatte, schob Judith so achtlos wie möglich beiseite. Gut möglich, dass dieses hier ganz einfach ein Zwischending war, ein puppenloses Puppenhaus, ein Ohnepuppenhaus, eine Nachbildung ohne Vorbild. An einem gewöhnlichen Puppenhaus hätte Judith nie Gefallen gefunden, dieses hier zog sie dagegen sofort in seinen Bann. Ein kleines leeres Universum, in dem sie sich zuhause fühlte, ohne Teil von ihm zu sein.

Die nächsten Tage wurden von der Arbeit völlig aufgesaugt, sie blieb noch länger als sonst in der Werkstatt, sparte sich die Mittagspause und hing daheim ihren Gedanken an die kleinen Möbelstücke nach. Sie lernte ständig etwas Neues über Holz und über ihre Arbeit. Zumal kleine Stücke so ganz anders waren als große, andere Fähigkeiten von ihr verlangten und neue Bewegungen. Sie besaß jetzt ein beleuchtetes Vergrößerungsglas und stellte so viele Lampen auf, dass ihr kein Staubkorn und kein Splitter entging. Jeden Winkel des Hauses nahm sie unter die Lupe, ölte, schliff und leimte, schnitzte und sägte und fluchte und freute sich.

Die Arbeit schien kein Ende zu nehmen, immer fielen ihr neue Details auf, derer sie sich annehmen konnte. Dass die Wählscheibentelefone keine Kabel hatten, konnte sie nicht auf sich beruhen lassen. Und wo ein Kabel war, musste auch eine Steckdose sein. Sie legte sich Floristendraht und weiße Modelliermasse zu. Außerdem kaufte sie eine ausgesprochen kleine Schraubzwinge, heimlich, von ihrem eigenen Geld. Ihre Hände wurden immer ruhiger. Die Kabel von den Telefonen zur Steckdose waren schnell zugeschnitten und ließen sich leicht verlegen. Diskret zwischen Tisch und Wand, wie in den echten Zimmern; sie stellte etwas her, um es unsichtbar zu machen, die größte Befriedigung, die sie in ihrer Laufbahn erlebt hatte. Anders verhielt es sich mit den Kabeln zwischen Telefongehäuse und Hörer. Judith wickelte den Draht in engen Spiralen um einen Nagel. Zum Schluss malte sie den kupferfarbenen Draht schwarz an, mit einer dicken matten Acrylfarbe. Ein paarmal vermalte sie sich, anfangs trug sie die Masse ständig zu dick auf, so dass das Ergebnis unsauber war.

Jana Volkmann:
Auwald
Verbrecher Verlag
184 S., geb., 20,00 €

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