- Politik
- Bergarbeiterstreik
Geheimdienst gegen Kumpel
Der Untertagestreik in Kriwij Rih hält die Ukraine in Atem. Staat und das Unternehmen verschärfen den Druck
Seit Wochen gibt es in Kriwij Rih (früher Kriwoi Rog) nur ein Thema: der Bergarbeiterstreik. Am 3. September haben Arbeiter des Schachts Oktjabrskaja ihre Arbeit niedergelegt und weigern sich seitdem, nach oben zu kommen. Aktuell harren noch über 150 von ihnen unter Tage aus.
Im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise und des Krieges im Donbass hat der einst wichtige Bergbausektor in der Ukraine an Bedeutung verloren - mit weitreichenden Folgen für die Beschäftigten. Bergarbeiter müssen von Löhnen unter 400 Euro leben. Deshalb fordern sie neben sicheren Arbeitsbedingungen eine Erhöhung ihrer Löhne auf 1000 US-Dollar und die Bewahrung staatlicher Sozialleistungen.
»In der Ukraine existiert bis heute ein noch nicht vollkommen zerstörtes Sozialsystem, das den Bergarbeitern gewisse Leistungen garantiert«, sagt Jurij Samojlow im Gespräch mit »nd«. Er ist Vorsitzender der Unabhängigen Gewerkschaft der Beschäftigten in Metallindustrie und Bergbau (NPGU) und unterstützt den Arbeitskampf aktiv. Wegen der harten Arbeitsbedingungen durften weibliche Angestellte bereits mit 45 Jahren, männliche Beschäftigte mit 50 Jahren in Rente gehen und erhielten eine gute Krankenversicherung. Doch insbesondere unter Ex-Präsident Petro Poroschenko wurden diese beruflich garantierten Rechte zunehmend geschleift, so etwa die frühzeitige Frauenrente. »Dabei hat das ukrainische Verfassungsgericht erklärt, dass dieser Schritt nicht gesetzmäßig sei«, kritisiert Samojlow.
Der Streik trifft in Kriwij Rih auf große Unterstützung. Am 7. September schlossen sich Arbeiter aus drei weiteren Minen an. Gemeinsam mit anderen Unterstützern, darunter auch die NPGU, organisieren sie Solidaritätsveranstaltungen und ein tägliches Plenum. »In der Region Kriwij Rih gibt es regelmäßig große Arbeitskämpfe, seit 2017 wird hier jedes Jahr gestreikt. Der einzige Unterschied ist, dass er in diesem Jahr deutlich härter und mit der aktiven Beteiligung der Bergarbeiterinnen geführt wird«, sagt Samojlow.
Ein Viertel aller Arbeiter in den Bergwerken sind Frauen, sie arbeiten bei der Herstellung von Sprengmaterial, der Erzanreicherung und beim Transport der Minenarbeiter in die Schächte. Doch im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen verdienen sie im Durchschnitt fast dreimal weniger.
Für die Unternehmensführung ist selbst das zu viel. Ihrer Ansicht nach ist der Streik illegal, Verhandlungsangebote der Streikenden weist sie deshalb konsequent zurück. Für Helmut Scholz, EU-Abgeordneter der Linkspartei, ist das ein Skandal: »Die Verweigerung der Unternehmensführung, mit der Arbeitnehmerseite zu verhandeln, und das harte Vorgehen der Sicherheitsbehörden verstoßen gegen essenzielle ILO-Kernarbeitsnormen«, sagt er gegenüber »nd«.
Die Eigentumsverhältnisse um das Eisenerzwerk sind wie so oft in der Ukraine unklar. Der Gesellschafter ist eine in Zypern registrierte Briefkastenfirma, die wahren Eigentümer sind bekannte Oligarchen. »Nach unseren Informationen gehören 50 Prozent Rinat Achmetow, die andere Hälfte Igor Kolomojskyj. Aber weil Letzterer unter Sanktionen steht und keine direkten Geschäftsbeziehungen mit der EU unterhalten darf, wird ein Zwischenmann eingeschaltet, über den der Handel abgewickelt wird«, sagt Samojlow. Die undurchsichtigen Eigentumsverhältnisse machen den Arbeitskampf der Bergarbeiter umso komplizierter.
Zumal auch die Regierung den Druck erhöht. »In der vergangenen Woche wurden Strafverfahren gegen mehrere Dutzend aktive Streikende, darunter auch mich, eingeleitet«, berichtet Samojlow. Erst lautete die Anklage Anstiftung zu Massenunruhen, dann wurde der Gewerkschaftsaktivist vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU vorgeladen und erfuhr, man habe die Anklage weiter verschärft und beschuldige ihn und die anderen Streikenden des Rowdytums. Dabei inszenierte sich Präsident Wolodymyr Selenskyj im Wahlkampf noch als unabhängiger Erneuerer. Doch seine Unterstützung gilt den Oligarchen Achmetow und Kolomojskyj. »Jurij Korjawtschenkow, Abgeordneter der Präsidentenpartei Diener des Volkes und ehemaliger Mitarbeiter in Selenskyjs TV-Produktionsfirma Kwartal 95, ist nach Kriwij Rih gekommen, aber er hat sich über die Streikenden lustig gemacht und gegen die Gewerkschaften gehetzt«, sagt Samojlow.
Unterstützung erhielten die Streikenden dagegen von der lokalen Gebietsadministration. Sie stellte den Arbeitern kostenlos Essen und medizinische Versorgung zur Verfügung. Wohl aus gutem Grund: In einem Monat sind Lokalwahlen, da möchte man es sich nicht mit den Bergarbeitern verscherzen.
Die EU dagegen bleibt passiv. »Der Streik in Kriwij Rih ist nicht nur für die Ukraine von Bedeutung, sondern auch aus EU-Sicht wichtig, weil er auf die Defizite bei der Umsetzung des Nachhaltigkeitskapitels des EU-Freihandelsabkommens und auf die prekäre soziale und gesellschaftliche Situation im Land hinweist«, sagt Scholz. In einem Brief an die EU-Kommission weist der Abgeordnete auf diese Problematik hin, eine Antwort steht bis heute aus.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.