Gut gepflegt wird nur die Pflegedokumentation

Dass es in der Altenpflege so miserabel läuft, hat durchaus mit dem Personal selbst zu tun, meint Roberto De Lapuente

  • Roberto De Lapuente
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie verdienen schlecht – und arbeiten viel. Schlechte Personalschlüssel, die oftmals sogar noch bewusst unterschritten werden, baden sie mit Mehreinsatz aus. In der Altenpflege wird im Grunde Akkord gearbeitet. Wie am Fließband. Nur dass die Stückzahlen nicht irgendwelche Dichtungsringe oder Nieten sind, die man einbauen, einlegen oder anbringen muss: Es sind Menschen. Alte Menschen um genau zu sein. Hilflose Menschen um es noch genauer zu formulieren. Das verhindert aber nicht, dass man sie trotzdem wie Dichtungsringe behandelt – ja behandeln muss, will man sein Pensum verrichten.

Altenpfleger haben keine Lobby, sie werden ausgebeutet und an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Sie sind Opfer einer Pflegeindustrie, die kalt auf Profitraten schielt. Und dennoch sind Altenpflegekräfte auch selbst schuld an diesem Dilemma. Dass es in der Altenpflege so miserabel läuft, hat durchaus mit dem Personal selbst zu tun.

Nein, das soll jetzt keine Tatsachenverdrehung sein. Armin Rieger behauptet das. Der Mann leitete fast zwanzig Jahre lang ein Seniorenheim für Demenzkranke in Augsburg. Mehrfach kritisierte er die Pflegepolitik. Der Pflege-Rebell machte sich wenig Freunde. Auch darüber berichtete er in seinem 2016 erschienen Buch »Der Pflege-Aufstand«. Als mittlerweile Ex-Heimleiter konnte er Einblicke in eine Welt gewähren, die der Welt draußen, die nicht gerne im Altenheim vorbeischaut, unbekannt ist.

Er berichtet von Lobbyismus, der eine Reform des Sektors unmöglich macht. Und von Politikern, die keinerlei Interesse an einem menschenwürdigen Pflegebetrieb haben, weil sie oft mit den Trägern von Heimen verbandelt sind. Ja, selbst Staatsanwaltschaften und Polizei neigen zur Schwerfälligkeit, wenn Verstöße gegen gesetzlich vorgegebene Pflegestandards doch mal zur Anzeige gebracht werden. Teils aus Ahnungslosigkeit, teils aus Kommunalräson.

Dennoch entlässt Rieger die Pflegerinnen und Pfleger nicht einfach aus der Verantwortung. Auch sie tragen nämlich ihren Teil dazu bei. Indem sie in den Pflegedokumentationen Maßnahmen und Hilfestellungen aufführen, die sie gar nicht geleistet haben – ja, die sie aus Zeitgründen gar nicht leisten konnten – gaukeln sie aller Welt vor, dass der Betrieb doch gut läuft. Im Grunde würden sie damit Urkundenfälschung begehen, sagte Rieger, denn die Dokumentation ist gewissermaßen das Herzstück der Altenpflege. Um sie dreht sich mittlerweile alles.

Nehmen wir nur mal den Pflege-TÜV. Der wurde nun zwar modifiziert, doch weiterhin ist die Dokumentation eine wichtige Grundlage zur Bemessung von Seniorenheimen. In Deutschland hatten diese zuletzt einen Durchschnittswert von 1,2 – alles Einser-Schüler also. Die Noten sollen nun verschwinden, das Prozedere bleibt aber weiterhin ähnlich: Wenn ausführlich dokumentiert wurde, dann gibt es natürlich eine gute Bewertung. Und der Beschiss geht weiter, man spiegelt der Öffentlichkeit weiterhin falsche Vorstellungen vom Tagesablauf in einer Pflegeeinrichtung vor, tut so, als sei alles in Butter.

Aber nicht nur die Öffentlichkeit wird betrogen, diejenigen, die die Dokumentation brav ausfüllen, die Pflegekräfte selbst, sind am Ende die Betrogenen. Statt endlich einen Aufstand der Pflege zu forcieren, spielt der Berufsstand dieses miese Spiel mit und stützt dabei ein an sich eigentlich am Ende angelangtes System.

Armin Rieger ermutigt die Branche zu mehr Überlastungsanzeigen. Auch aus Gründen des Selbstschutzes. Denn haftbar für Pflegefehler oder -unterlassungen sind zunächst die Arbeitnehmer selbst. Sie haben insofern sogar die Verantwortung, auch im Sinne ihrer Schutzbefohlenen, fehlerhafte Prozesse, Überforderungen und ein zu hohes, gar nicht händelbares Arbeitspensum zu melden. Indem man die Missstände aber nicht nur hinnimmt, sondern sogar noch ins Reine dokumentiert, macht man eine etwaige Veränderung oder Verbesserung aber faktisch unmöglich.

Dem ehemaligen Heimleiter ist klar, dass Pflegerinnen und Pfleger das nicht aus Boshaftigkeit tun, weil sie Spaß am Betrug haben etwa. Sie sind überlastet, am Ende ihrer Kräfte, wählen den Weg des geringsten Widerstandes und haben außerdem auch Angst davor, dass man ihnen schlechte Pflegearbeit nachsagen könnte. Die wird aber leider nicht besser, wenn man ein schlechtes System akzeptiert.

Solange man diese Praxis aber ohne nennenswerten Widerstand fortführt, wird an sich schlechte Pflege weiterhin belohnt. Eine etwaige gute Pflege aber, die einen lückenhafte Dokumentation vorlegt, wird abgestraft, schlecht benotet und von den Krankenkassen finanziell abgewürgt.

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