Die Kraft, vorsichtig zu bleiben

Zum Tod des Schriftstellers Günter de Bruyn

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Seltsam: Der eher Sanfte lässt sich von einer gehärteten Kontur anziehen. Merkwürdig: Der fein Fühlende entwickelt Nerv für eine soldatisch befestigte Ordnung. Faszinierend: Der Scheue begibt sich in Atmosphären der blankgeputzt adligen Präsentation. Denn: Günter de Bruyn – ein Zurückgezogenheitsästhet, ein Berlin-Brandenburger Kleinglückerzähler – ist in den letzten Jahren seines Lebens zum präzisen, brillanten Chronisten und Porträtisten preußischer Eliten geworden. Vom Romancier zum poetischen Dokumentaristen. Die Hinwendung zum Königlichen – eine Anverwandlung mit Stil und Sinn (»Die Finckensteins«, »Preußens Luise«, »Als Poesie gut«).

Dieses Näheabenteuer ganz aus Vergangenheit war ein durchaus signalstarker Schritt. Denn de Bruyn hat an deutscher Gegenwart gelitten, er hat gelitten am eigenen Schicksal, an ostelbischer Unfreiheit – er hat diese Unfreiheit zwar kompensieren können durch ein ehrlich kritisches Erzählen in der DDR und über die DDR, aber nie wurde ihm diese schwierige, observierte Freiheit zur wirklichen Glückserfahrung, und so bot sich der Rückblick ins Historische als (Aus-)Weg an. Exil per Schrift.

Die Erscheinungsjahre der Preußen-Bücher ernst genommen: Sie geschah nach 1990 – die Abkehr also auch aus bundesdeutscher Realität. Der Schriftsteller wirkte somit wie jemand, der das 18. oder 19. Jahrhundert aufrief, um sein eigenes Erleben bewusst in eine fordernde Ungleichzeitigkeit zu versetzen. Jenes Modell der Klassik, alle Subjektivität sei zuvörderst Freiheit und Selbstbestimmung des Willens – es lebt in de Bruyns Büchern, es webte mit an der Ausbildung seiner persönlichen Bilanz in ungeliebten Gesellschaften: unrettbar fremd zu sein. Und es zu bleiben. Auch Essays erzählen dies, leise mahnend (»Jubelschreie, Trauergesänge«, »Deutsche Zustände«, »Unzeitgemäßes«).

»Abseits« heißt bezeichnend sein Buch über die Wahlheimat Brandenburg. Notate aus einer märkischen Existenzweise, die im Arkadischen eine Wahrheit suchte – jenseits der Beteiligung an den obligaten Hauptgeschäftszeiten. Noch wenn er über seine Geburtsstadt Berlin schrieb, war ihm Fontane näher als etwa Döblin. Dieser Autor de Bruyn gehörte nie zu jenen kräftigen Selbstbehauptern und Lederhäuten, wie sie ein politischer Rationalismus benötigt, der für alle Wechselfälle der politischen Aktualität über rechtfertigende Erklärungen und narkotische Techniken verfügt. Nein, er wurde hin- und hergeworfen vom Wechselspiel aus Gewissheiten und Zweifeln, und nie war es wirklich ein Spiel, ihn durchfuhr der Konflikt zwischen Selbstbewusstsein und Zögerlichkeit, er rang stets um die schwierige Scheidung von eigenen und außengesteuerten Trieb- und Willenskräften.

Er hat den Roman »Der Hohlweg«, den er 1963 veröffentlichte, nachträglich als Verirrung im sozialistischen Realismus verworfen. Er hat bezwingend detailstarke, unaufgeregte Autobiografien geschrieben (»Zwischenbilanz«, »Vierzig Jahre«), aber nach Veröffentlichung unumwunden gestanden, sich doch »nicht tief und offen genug« offenbart zu haben. Schnell parat sind bei so was die probaten Vokabeln: feige, abwartend, inkonsequent – aber ach: Wortmeldungen aus Weltanschauungstrotz.

Günter de Bruyn lehnte im Oktober 1989 den Nationalpreis der DDR ab, und nach dem Ende des Staates musste er feststellen, als Spitzel der Staatssicherheit geführt worden zu sein, ohne je unterschrieben zu haben. Aber Anwerbungsversuche hatte er nicht kategorisch zurückgewiesen und sich also Informationen abpressen lassen, es war nach seinen eigenen Worten die »Tragödie eines Versagens«. Nie mehr, so de Bruyn 1993 in der FAZ, »werde ich glaubhaft von Würde und Anständigkeit reden, nie mehr über andere urteilen können. Und immer werde ich, nach diesem Akt der Verdrängung, der das Erinnern an mein Versagen zwar nicht auslöscht, aber zu meinen Gunsten eingefärbt hatte, mir selbst gegenüber misstrauisch sein ... Zu einer Antwort auf die Frage, wie eine ungeliebte Diktatur sich so lange zu halten vermochte, gehört nun auch ein Fingerzeig auf mich selbst.« Worte zum Knien. Weil gegen dieses Stocken andere Münder stehen, noch immer, deren Vorwärtsgefasel klirrt ungedimmt, als wüssten sie nicht, was Schuld und Irrtum und Eingeständnis ist.

Geboren wurde de Bruyn 1926: aus der Schule an die Flak, und diese Zeit schuf bedrängende Schilderung: »In dem Moment, in dem der Schuss dröhnt, erkenne ich unter den Altersmasken die Schülergesichter und weiß genau, dass wir noch immer dabei sind, nie entlassen wurden, nie entlassen werden, dass wir in Uniform altern ...« Aus dem Krieg aufs Land, aus der Hilfslehrerschaft in die Bibliothek. Der Ort der Bücher als früher Fluchtort und zugleich ein Tor zur Welt. Aus dem Bibliothekar wird der freie Schriftsteller, der öffentliche Anerkennung genießt, aber doch fürchtet, sie könne zähmen und so die Selbstachtung untergraben. Ererbter Katholizismus, diese Grundausstattung familiärer Geborgenheit, gibt die Dämmschicht.

De Bruyn ist in seinen Romanen und Erzählungen (»Buridans Esel« »Preisverleihung«, »Neue Herrlichkeit«) kein Verschwender des großen, ausgreifenden Gefühls. Die Leidenschaft stand in seinem Werk stets unter Verdacht, eine gefährliche Mitgift zu sein. Fast könnte man sagen, er ist zu mitfühlend und zaghaft gewesen, um seinen Romangestalten ein tragisches Schicksal zuzumuten, und bis zu besagten Autobiografien hielt er sich mit Bezügen zum eigenen Leben ohnehin zurück. Exponierte seine Seele nicht. Der psychische Abgrund seiner Gestalten als Ahnung, nicht als reißerische Ausmalung. Er ist ergriffen gewesen von der menschlichen Schwäche, vom Schwanken in Konflikten, von Selbstverlusten. Ein Erzählen mit souveräner Beiläufigkeit, mit fast romantischer Ironie und Komik auch.

Was prägte de Bruyns DDR-Bild? Die Familie als die kleinste Zelle des faulen Kompromisses. In den Nischen, diesen versteckten Freiheitsprovinzen, triumphierte der private Vorteil, der draußen, wohlfeil kostümiert, sein politisches Bekenntnis schnurrte, um in Ruhe gelassen zu werden. Staubiger Opportunismus und geschmeidige Selbstverleugnung. Die DDR wurde von ihm beleuchtet, die Silhouette jedoch zeigte Zeitlosigkeit. Mit feinen spitzen Anwürfen, mit unauffälligen, aber doch trefflichen Vergleichen die Wirklichkeit schildern – ohne sich ihr geistig zu fügen: Dies war letztlich das Thema auch seiner sehr erfolgreichen Biografie »Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter«.

Es gibt eine Stabilität der Unsicherheit, die vibrierende Literatur schafft. Es gibt eine taktische Kraft, sich vorwiegend vorsichtig durchs Leben zu tasten. Von solcher Art waren Wesen und Werk Günter de Bruyns. So lebte und schrieb er sich in die bessere deutsche Tradition. Entfernung ist ihm zur wahren Bewegung geworden. Wie einer, der weiß: An den Grenzen wächst das unberührteste Grün. Verlorenheit kann schön sein – wenn sie das Individuelle am Menschen betont, das Würdige. Nicht gekettet an eine Gesinnung, die das Schwerelose aus dem Körper treibt.

Nun ist der Schriftsteller im Alter von 93 Jahren in Bad Saarow gestorben.

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