• Kultur
  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Der ungeliebte Bruder

Eine Entdeckung: Die Märchen und Sagen von Ferdinand Grimm

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Die letzten Jahre verbrachte er in Wolfenbüttel. Es ging ihm miserabel. Er war arm und krank, lebte seit Jahren von Brot und Blutwurst, Kaffee und Tee, hatte heftige Kopfschmerzen und schlaflose Nächte und nur einen einzigen Wunsch: »einmal frei von Sorge und Angst, wenn der Himmel mein Verlangen erfüllt, zu leben«. Er schrieb es am 4. Dezember 1844 seinen Brüdern, die ihm »schon so oft und viel gegeben« hatten, die ihm Geld schickten und ihre abgetragenen Kleider, und er bat, ihm auch über die Tücken dieses Winters zu helfen. Die beiden Brüder, auf deren weiteren Beistand er hoffte, Jacob und Wilhelm Grimm, waren berühmt. Er, Ferdinand, war der Außenseiter, der Ungeliebte, der Geschmähte, der in der Familie nie Anerkennung fand und so gut wie unbekannt blieb, obwohl er ein gescheiter, belesener Mann war, der selber Märchen und Sagen sammelte und auch publizierte.

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Heiner Boehncke/Hans Sarkowicz: Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm- Bruders.
Die Andere Bibliothek, 447 S., geb., 44 €.

Dass er nun doch noch zu Ehren kommt und zu einem hinreißend schönen Buch, ist einem hartnäckigen Autorenduo zu danken und, natürlich, der exquisiten Anderen Bibliothek. Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz haben dort schon vor Jahren in einem Großband den Malerbruder Ludwig Grimm mit seinen Lebenserinnerungen dem Vergessen entrissen. Jetzt, nach langer, intensiver Suche, geben sie auch dem armen, ausgegrenzten Ferdinand eine Stimme. Und sind damit wieder einmal, wie Herausgeber Christian Döring stolz registriert, der gelehrten Germanistik »den entscheidenden kleinen Schritt voraus«.

Jacob und Wilhelm ließen kaum ein gutes Haar an Ferdinand, sie hielten ihn für dumm, faul und unnütz, und seit sie am Weihnachtsabend 1810 von seinem »verkehrten Leben« erfuhren, seiner »Unnatur«, der Homosexualität, wuchsen die Antipathien ins Uferlose. Sein Leben, erklärte Wilhelm 1812, »ruht auf nichts«. Immerhin bescheinigte er ihm »ein edles Element im Charakter«. Dass auch Ferdinand loszog, um Märchen zu sammeln, dass sie davon sogar profitierten, zählte nicht viel. Mehr als einen Dilettanten, der ihnen Sorgen bereitete, wollten sie in ihm nicht sehen.

Jacob und Wilhelm hatten, wie wir aus einem weiteren Prachtband der Anderen Bibliothek wissen (»Es war einmal … Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte«, 2019 herausgegeben von Albert Schindehütte und Heinz Rölleke), eine Menge Zuträger, die ihnen die Geschichten nach Hause brachten. Oder sie bezogen sie aus schriftlichen Quellen. Ferdinand machte sich selber auf den Weg. Seine Reisen zwischen Kassel und Wolfenbüttel, nach Göttingen, Berlin oder München absolvierte er zu Fuß und nutzte sie jedes Mal, um sich überlieferte Sagen und Märchen erzählen zu lassen. Oder er konsultierte, bestens informiert, ältere Chroniken und Werke. Er war ein freundlicher Mann, der mit anderen leicht ins Gespräch kam. Das Gehörte und Gelesene schrieb er auf, manches übernahm er wörtlich, anderes wurde bearbeitet und erschien unter verschiedenen Pseudonymen in drei Sammlungen, darunter dem Band »Volkssagen der Deutschen«.

Boehncke/Sarkowicz machen diesen nie beachteten Ferdinand Grimm endlich sichtbar: mit seinen meist kurzen Volkssagen, den »Burg- und Bergmärchen«, die erst nach seinem Tod erschienen, der Schlüsselerzählung »Tante Henriette«, den Texten aus dem Nachlass und auch mit Briefen, die am Schluss in der ausführlichen, reich illustrierten biografischen Erkundung mitgeteilt werden. »Wir wollen dazu beitragen«, so im Vorwort des gründlich kommentierten Bandes, Ferdinand »als einen Bruder Grimm wahrzunehmen«.

Er war, als er Anfang Januar 1845 starb, nur Wochen nach seinem verzweifelten Brief an Jacob und Wilhelm, gerade 57 Jahre geworden. Gearbeitet hat er bis zuletzt. Einer Hexe in einem seiner Märchen legte er die Worte in den Mund: »Ich bin allein. Meine Welt ist mein einsamer Garten, die Bücher sind meine Freunde, mit welchen ich mich unterhalte; ohne diese Bücher, ohne Bäume und Blumen lebte ich längst nicht mehr.«

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