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Rückzug ohne Blutvergießen
Kirgistans Präsident Sooronbaj Dscheenbekow ist zurückgetreten
Sooronbaj Dscheenbekow zieht die Reißleine. »Ich möchte nicht in die Geschichte Kirgistans als Präsident eingehen, der Blut vergossen und auf seine eigenen Bürger geschossen hat«, verkündete er in seiner Rücktrittsrede am Donnerstag. Er sehe keinen anderen Ausweg, um die Aggressionen und Proteste gegen ihn zu beenden.
Mit Dscheenbekows Entscheidung findet Kirgistans seit Tagen andauernder Politkrimi seinen vorläufigen Höhepunkt, denn der Präsident gibt damit der wichtigsten Forderung von Premierminister Sadyr Schaparow nach. Dessen Anhänger hatten sich seit den Morgenstunden vor Dscheenbekows Residenz versammelt und den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Ob er sich tatsächlich dort aufhält, ist unklar. Dscheenbekow war nach dem Sturm auf das Präsidialamt in der vergangenen Woche abgetaucht. Hätten Demonstranten nun die Residenz angegriffen, wären nach seiner Darstellung Sicherheitskräfte eingeschritten und hätten sogar scharf geschossen.
Dscheenbekow hatte bereits vergangenen Freitag seinen Rücktritt angeboten, unter der Voraussetzung, dass es eine legitime Regierung gebe. Die wurde am Mittwoch ernannt. Der erst kürzlich aus dem Gefängnis befreite Schaparow wurde vom Parlament als Regierungschef bestätigt, ebenso wie seine Minister. Experten streiten, ob er als Vorbestrafter ein Regierungsamt hätte übernehmen dürfen. Direkt nach der Abstimmung folgten Verhandlungen zwischen ihm und Dscheenbekow, der noch am Nachmittag verkündet hatte, sich auf keinen Fall zurückzuziehen.
Das macht seine Entscheidung nun umso überraschender. »Der Rücktritt kam unerwartet«, sagt Erik Abdykalykow, ein bekannter Aktivist in der Hauptstadt Bischkek. »Ich dachte, sie finden einen Kompromiss.« Durch Dscheenbekows Rücktritt sei ein Machtvakuum entstanden. »Ich hoffe sehr, dass das keiner für seine Zwecke ausnutzt.« Die kirgisische Politikwissenschaftlerin Asel Doolotkeldijewa fragt auf Twitter, ob der schnelle Abgang gar ein Zeichen von Moral sei. Schließlich hätte Dscheenbekow seine eigenen Anhänger zur Unterstützung gegen Schaparow aufrufen können. Stattdessen mahnt er in seiner Rücktrittserklärung, dass der Premier seine Unterstützer aus Bischkek abziehen solle. »Für mich stehen der Frieden in Kirgistan, die Integrität des Landes, die Einheit unseres Volkes und die Ruhe in der Gesellschaft über allem«, sagte er. Schaparows Anhänger hatten in den vergangenen Tagen andere Demonstranten angegriffen.
Der Aktivist Abdykalykow hat die Proteste, die sich ursprünglich gegen die manipulierten Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 4. Oktober richteten, von Anfang an unterstützt. Er hofft, dass es nun nicht zu Chaos kommt, sondern dass sich die Regierung bis zu den Neuwahlen den eigentlichen Problemen des Landes widmet. Denn neben den politischen Turbulenzen steckt Kirgistan in einer Wirtschaftskrise und die Coronakrise, an der in Kirgistan 1000 Menschen starben, ist längst nicht ausgestanden.
»Wir wollen faire Wahlen, keine Korruption und einen gesunden Wettbewerb«, fordert Abdykalykow, der der oppositionellen Partei Respublika nahesteht. »Wir wollen vor allem, dass alles rechtmäßig abläuft.« Abdykalykow hofft, dass diese Revolution erfolgreich sein wird und nach den Neuwahlen neue Gesichter an die Macht kommen.
Nun eine Parlaments- und eine Präsidentschaftswahl zu organisieren, dürfte nicht einfach werden. Abdykalykow berichtet, dass die Anhänger Schaparows am Donnerstagabend durch Bischkek ziehen wollten und bereits den Rücktritt des erst kürzlich gewählten Parlamentssprechers fordern, der laut Verfassung nun das Präsidentenamt interimsmäßig übernehmen soll. Dies könnte den Weg für Schaparow an die Staatsspitze ebnen.
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