Infektionshemmung im Osten

Die Corona-Inzidenz unterscheidet sich deutlich zwischen den Berliner Stadthälften

  • Nicolas Šustr und Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

Durch Berlin verläuft eine Trennlinie bei den Corona-Infektionen: In den vier reinen Ostberliner Bezirken Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick liegt die Anzahl der Infektionen mit dem Coronavirus deutlich unter jener der West- und Innenstadtbezirke. Seit Tagen wird gerätselt, ob es eine stichhaltige Ursache dafür gibt. »Ich hatte mich umgehört, ob es eine belastbare Hypothese für die deutlich niedrigere Covid-19-Inzidenz in den Ostberliner Bezirken gibt. Bisher ist nichts, absolut nichts zusammengekommen«, sagt der Pankower Bezirksbürgermeister Sören Benn (Linke) zu »nd«.

Spekulationen gibt es gleichwohl einige. So könnte es einen Zusammenhang mit der in der DDR verpflichtenden Tuberkulose-Impfung mit dem Wirkstoff BCG geben. Laut einer Zwischenauswertung einer seit 2017 laufenden griechischen Studie, bei der Senioren bei der Entlassung aus dem Krankenhaus eine BCG-Impfung erhielten, sank in der Folge die Zahl der Atemwegsinfekte um 80 Prozent im Vergleich zur Gruppe der Probanden, die nur ein wirkungsloses Placebo geimpft bekam. Ob BCG auch einen Einfluss bei Covid-19-Infektionen hat, wird derzeit in mehreren Studien untersucht. Die Stärke des Impfstoffs scheint vor allem in einer unspezifischen Aktivierung des Immunsystems zu liegen.

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Zusammenhang mit Impfstoff?

»Ein interessanter Gedanke, der aber naturwissenschaftlich zu belegen wäre und vielleicht auch belegt werden könnte«, sagt der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven zu einem möglichen Zusammenhang mit dem Impfstoff BCG. Das sei allerdings nur mit aufwendigen Massentestungen möglich. »Einen kausalen Zusammenhang im Feld zu beweisen, ist schwierig«, so der Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zu »nd«. »Wenn wir die hohe Inzidenz in westlichen Ländern mit derjenigen in Südkorea und in China vergleichen, die deutlich niedriger liegt, könnte es auch medizinische Gründe in Bezug auf die Immunität geben. Also, dass in Südostasien die Menschen schon wesentlich mehr Kontakt mit ähnlichen Viren hatten«, erläutert der Medizinhistoriker.

»Es hat auch mit der Sozial- und Altersstruktur zu tun, ob also die Menschen in beengten Wohnverhältnissen leben, beziehungsweise wie die Relation von Älteren und Jüngeren ist«, sagt Leven. Generell ist die Inzidenz in den Außenbezirken niedriger als im Stadtzentrum. In allen vier Bezirken gibt es große Gebiete mit Einfamilienhäusern. Der große Anteil von landeseigenen und Genossenschaftswohnungen zu günstigen Mieten in Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf lässt auch vermuten, dass es weniger überbelegten Wohnraum gibt als in innerstädtischen und westlichen Bezirken.

Keine rassistischen Erklärungsmuster

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Von »rassistischen Erklärungsmustern«, wonach im Westen die Migranten für die höhere Inzidenz verantwortlich seien, hält der Bezirksbürgermeister von Lichtenberg, Michael Grunst, nichts. »Es ist natürlich einerseits das Verhalten. Andererseits müssen sich Leute auch in den ÖPNV quetschen und leben vielleicht auch in sehr beengten Verhältnissen«, sagt der Linke-Politiker zu »nd«. »Der Aufmerksamkeitsfokus beeinflusst auch die Messergebnisse. Wenn ich also von Infektionen in einem Wohnheim oder einem Mietshaus mit sehr beengten Wohnverhältnissen und engem Kontakt der Bewohner untereinander weiß und dann alle durchteste, werde ich wesentlich mehr positive Ergebnisse bekommen«, erklärt Karl-Heinz Leven.

»Meiner Ansicht nach ist der Hauptgrund der niedrigeren Corona-Inzidenz im Osten die Berufsgruppenverteilung und Schicht-Milieu-Verteilung«, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz zu »nd«. »Tatsächlich sind im Westen die Gruppen mit mittlerem und höherem Einkommen, die mehr Kontakt haben, mehr zusammenkommen und mobiler sind, etwas stärker vertreten als im Osten«, so Kollmorgen mit Blick auf Menschen, die in der Unternehmensführung, der Wissenschaft und der höheren Verwaltung tätig sind. »Tendenziell sitzt die Bevölkerung im Osten also eher in der Regionalbahn als im ICE. Inwieweit sich Berlin noch deutlich in Ost und West abgrenzen lässt, ist aber offen«, räumt der Soziologe ein.

Fragliche Folgsamkeit

Immer wieder wird als Erklärungsversuch für den deutlichen Ost-West-Unterschied die angeblich größere Folgsamkeit der einstigen DDR-Bürger genannt. »Es könnte schon sein, dass ältere Ostdeutsche noch stärker an Ordnung, Disziplin und Regelbefolgung orientiert sind«, sagt Kollmorgen. »Andererseits sind sie auch etwas gegen den Strich gebürstet und deutlich skeptischer gegenüber der Bundesrepublik als die Westdeutschen. Diese gegenläufigen Tendenzen machen es schwer, zu einem eindeutigen Schluss zu kommen.« Als Wissenschaftler kommt Kollmorgen zu einem für die Allgemeinheit eher betrüblichen Fazit: »Wir bewegen sich eher im Bereich der Hypothesen und Vermutungen.«

Doch die Corona-Mauer bröckelt langsam, die Inzidenz in Pankow könnte demnächst ebenfalls den Grenzwert von 50 überschreiten. Bundesweit an der Spitze liegt Neukölln, wo das Infektionsgeschehen inzwischen außer Kontrolle zu geraten droht. Im rot-rot-grünen Senat spielen die Unterschiede zwischen Ost und West derzeit ohnehin keine Rolle. »Darüber wurde nicht gesprochen«, sagt die Senatssprecherin dieser Zeitung. Der Senat war am Donnerstag damit beschäftigt, einen Beschluss zu Soforthilfen für die Gastronomie zu verabschieden. Zu möglichen schärferen Eindämmungsmaßnahmen erklärte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD): »Das ist nicht ausgeschlossen und es hängt an jedem einzelnen von uns, das zu verhindern.«

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