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Auf dem Weg der Besserung?
Die Investitionen in die Corona-App gelten als überhöht, die Nutzungsmöglichkeiten als beschränkt
Seit dem beständigen Anstieg der Infektionszahlen rufen Politiker, aber auch Ärzte dazu auf, die Corona-Warn-App stärker zu nutzen. Nur 60 Prozent der Corona-Infizierten würden derzeit ihre Testergebnisse erfassen lassen, so dass die App überhaupt Kontaktwarnungen an potenzielle weitere Überträger absenden kann, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in dieser Woche dem »Redaktionsnetzwerk Deutschland«. Auch von technischer Seite erhält die App Kritik, die bislang erst von 19,6 Millionen Menschen heruntergeladen wurde. Die Zahl der aktiven Nutzer wird momentan bei 16 Millionen vermutet. Die Bundesregierung verzeichnet derzeit rund 500 Warnungen pro Tag, die über die App angestoßen werden. Bei rund 7600 neuen Infektionen, die das Robert-Koch-Institut am Mittwoch meldete, werden die Grenzen der Ansprüche deutlich, die an die App gestellt werden können.
Linus Neumann, der als Berater für IT-Sicherheit in Berlin arbeitet, kritisierte in einem Blogbeitrag, die App habe bereits vier Monate nach ihrem Start im Juni den Anschluss verloren. Aktuell ist strittig, wie gut die App im Alltag eine Gefährdung erfassen kann. So muss mit einer Fehlerquote gerechnet werden, wenn die App im öffentlichen Personenverkehr eingesetzt wird - dort, wo die wahrscheinlichsten Infektionskontakte lauern. Reflexionen des in Bussen und Bahnen verbauten Metalls verfälschen die Aussagekraft der von Smartphones gesendeten Signale.
Ein weiterer Schwachpunkt ist laut Neumann die Fixierung auf den Abstand. »Zwei gemeinsame Stunden in einem stickigen kleinen Kellerraum mit großzügigem Abstand von drei Metern sind riskanter zu bewerten als 30 Minuten an der frischen Luft bei einem Abstand von 1,5 Metern. Die App kann den Unterschied aber nicht feststellen«, schreibt Neumann. Er kritisiert auch, dass die Raumsituation unzureichend erfasst werde, wenn beispielsweise in Großraumbüros zwar der Abstand passe, aber fehlende Lüftung die Gefährdung deutlich erhöhe.
Der IT-Experte wünscht sich daher das Kriterium »Zusammenkunft«, das IT-Expert*innen bereits datensparsam ausgearbeitet haben. Statt in Meetings oder in Restaurants handgeschriebene Teilnehmer*innenlisten zu führen, könnten anwesende Personen mit einer zusätzlichen App-Funktion einen QR-Code abfotografieren und die Zeit des Besuches erfassen.
Kommt es zu einer Corona-Erkrankung, wäre dieser QR-Code die Basis, um über den möglichen Infektionskontakt zu informieren. Anonymisiert und ähnlich dezentral organisiert, wie es aktuell beim Austausch der Bluetooth-Signale passiert. »Weiterentwicklungen wie diese sollten bei einer 20-Millionen-Euro-App nicht aus der Community kommen müssen, sondern aktiv von Telekom und SAP vorangetrieben werden«, ordnet Neumann die Entwicklungskosten ein. Die Kosten für den dauerhaften Betrieb und die Werbung für die App werden aktuell mit fast 70 Millionen Euro angegeben.
Deutschlandweit geraten die Gesundheitsämter mit der manuellen Nachverfolgung der Kontakte in Bedrängnis. Teils liege das an der nachlassenden Kooperationsbereitschaft der Erkrankten, teils ließen sich keine zentralen Infektionsereignisse, wie Partys oder andere Zusammenkünfte, identifizieren. Die Akzeptanz der App als ein Mittel, um die Coronakrise unter Kontrolle zu halten , bleibt weiterhin gering.
Anders sieht es in Irland aus. Dort nutzen derzeit 34 Prozent der über 16-Jährigen die Covid-Tracker-App. 2,1 Millionen, der rund 4,9 Millionen Iren haben die App heruntergeladen. »Die Mentalität in Irland ist eine andere«, beschreibt Lea S. ihren Eindruck. Die Linguistin und Kommunikationsexpertin lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Irland und vergleicht die unterschiedlichen Auffassungen der Corona-Apps. »Von Anfang an war die Botschaft in Irland: Dein Job ist es, andere zu schützen, indem du zu Hause bleibst, die App runterlädst und auf deine Kontakte achtest.« Der Funktionsumfang der irischen App bietet deutlich mehr Nutzwert als die Corona-Warn-App von SAP und Telekom. Die täglichen Zahlen und Fakten zur Infektionsausbreitung sind direkt in der App nachlesbar. Wie viele Intensivbetten sind in Benutzung, wie viele bestätigte Fälle sind in Behandlung oder wurden wieder entlassen - die App liefert diese Zahlen taggenau bis zur Detailauswertung für die Wohnbezirke. In weiteren Dialogen wie dem »Covid Check-In« fragt die App nach aktuellen Symptomen, die Nutzer*innen bei sich feststellen, und empfiehlt bei Bedarf den eigenverantwortlichen Schritt zur Isolation sowie die Kontaktaufnahme zum Allgemeinmediziner.
Der Schutz der Anderen - »Keeping other people safe and protected« - ist die Kernbotschaft, mit der die irische App an den Start gegangen ist. »Was ich in Deutschland sehe, ist fast eine Kommunikation, als würde die App präventiv funktionieren und überwiegend einen selbst betreffen, anstatt auch andere um sich herum«, sagt Lea S., die anonym bleiben möchte, beim Blick auf die deutschen Nutzungsgewohnheiten. Die irische App ist ein quelloffenes Projekt, bei dem der Code frei zur Verfügung gestellt wird. Sie ist seit Juli im Einsatz und wurde Anfang Oktober auch in New York und New Jersey veröffentlicht. Eine kleine Erweiterung der deutschen Corona-Warn-App wurde am vergangenen Montag veröffentlicht. Wer seinen positiven Corona-Test in die App hochgeladen hat, kann nun freiwillig auch ein Symptomtagebuch führen. Laut Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, helfe das bei der Verbesserung der App-Warnungen.
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