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Gegen die Hoffnungslosigkeit
Wie privilegiert ist die Debatte um die Mohammed-Karikaturen und die Meinungsfreiheit?
Für Gewalt, ganz besonders für tödliche, gibt es keine Entschuldigung und kein Verständnis. Zu Recht. Es darf nicht geduldet werden, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Ein Konsens, der unser Zusammenleben in der Gesellschaft trägt. Und doch: Es passiert täglich und mit den unterschiedlichsten Rechtfertigungen. Diese auszuführen verbietet sich, denn wer darüber zu detailliert nachdenkt oder schreibt, gerät schnell in den Verdacht, Partei ergreifen zu wollen. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sagt Artikel eins des Grundgesetzes, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit folgt direkt in Artikel zwei.
Mitte Oktober wurde im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine der Geschichtslehrer Samuel Paty auf offener Straße von einem Dschihadisten ermordet, weil er im Unterricht Karikaturen von Mohammed gezeigt hatte, um über Meinungsfreiheit zu diskutieren. Am vergangenen Donnerstag wurden drei Menschen in einer Kirche in Nizza erstochen, nachdem Präsident Macron erklärt hatte, dass religionskritische Karikaturen von der Meinungsfreiheit gedeckt seien. Am Wochenende gab es eine weitere Tat eines mutmaßlichen Dschihadisten, der in Lyon auf einen Priester schoss. Frankreich gibt sich trotzig. Angefangen bei Präsident Emmanuel Macron.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist auch die Grundlage des Journalismus, auch für diesen Artikel, es ist die Grundlage der Pressefreiheit. Extremist*innen ertragen diese oft nicht, stacheln an, schreiten zur Tat oder motivieren andere dazu, zu morden. All das ist zu verurteilen. Da gibt es kein Vertun. Unsere Solidarität ist gefragt, wird gefordert und es gibt Politiker*innen und Journalist*innen, die das derzeit einfordern. Auch ich würde das gern uneingeschränkt tun, doch wann immer mir dieses Thema in den letzten Jahren begegnet, führt es mich zurück in das Jahr 2006.
Damals saß ich an einem Ort dieser Welt, an dem die Dinge nicht so klar waren: in Afghanistan. Ich blickte auf die eigenen Werte, für die ich einstand und als Offizier Uniform trug. Damals waren kurze Zeit zuvor in der dänischen Tageszeitung »Jyllands Posten« Mohammed-Karikaturen erschienen. Die Abbildungen, die den Hass schüren, tauchen seither immer wieder auf. Klar: Die Freiheiten erfahren immer dort ihre Grenzen, wo sie einander einzuschränken drohen. Klar: Die persönliche Freiheit geht nur so weit, wie die Freiheit anderer nicht eingeschränkt wird.
Damals erlebte ich wie Freiheiten aufeinandertrafen. Mitten in einem Land, in dem das Leben unfrei ist. Die körperliche Unversehrtheit ist in diesem Land nicht gegeben. Sind es nicht die Armut und das Klima, ist es das Recht des Stärkeren, das dort herrscht. Krieg ist in diesem Land seit vier Jahrzehnten der Normalzustand. Eine tragfähige Wirtschaft gibt es nicht. Das Wenige das funktionierte, fiel der Konfrontation der Blockmächte anheim, deren Stellvertreterkrieg nicht an der innerdeutschen Grenze stattfand, sondern in eben diesem Land, in dem ich nun saß. Es war einer der härtesten Winter überhaupt. Menschen erfroren in ihren abgelegenen Dörfern. Wer nicht erfror, überlebte nur. Von Leben konnte kaum die Rede sein.
In dieses Leid brach eine privilegierte Debatte über Pressefreiheit ein. Geführt aus Wohnzimmern, Konferenzsälen und Redaktionsräumen, von Menschen, die keinen Hunger mehr kennen, deren Leben nicht – weder durch Natur, noch menschliche Willkür – in Gefahr ist und deren Überleben wohl so sicher ist, wie an keinem anderen Ort der Welt.
Die Debatte war und ist privilegiert, denn es steht denen, die sie losgetreten haben frei, sie zu führen. Niemand verlangt die tägliche Auseinandersetzung mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. An vielen geht auch Religion vorbei. Die Debatte traf in jenem Januar 2006 auf Menschen, die von einem anderen Standpunkt aus mit dem Thema umgehen müssen. Nicht nur, dass vielen von ihnen nicht die akademische Bildung gegeben ist, über die die Initiator*innen der Debatte verfügen. Vielen fehlt es an der Grundlage schlechthin. Sie können weder lesen noch schreiben. Ihnen wird vorgelesen, vorgeschrieben – und so kommt es zum einzigen Ergebnis, das diese Debatte haben kann: zum Affront. Die Debatte kann an jedem Ort stattfinden, denn sie wählte das simpelste Mittel, sich zu verbreiten: ein Bild.
Zehntausende Menschen gingen auf die Straßen und protestierten. Die religiösen Führer wurden ihrer Aufgabe gerecht, verurteilen die bildliche Darstellung, wie es vermeintlich in der Schrift, deren Deutung sie vornehmen, verlangt wird und wie es letztlich die Menschen in diesem Land von ihnen erwarten. Es blieb erstaunlich ruhig, erstaunlich friedlich, zumindest dort, wo ich erlebte, was die Debatte auslösen kann. Andernorts – und dafür sprachen die militärischen Quellen die den Hergang untersuchten – kam es zu Gewalt.
Es waren Prediger, die umherzogen. Sie suchten nach denen, denen das Leben nichts mehr bot, denen die Hoffnung abhanden gekommen war, den Winter zu überleben und denen der Griff zur Waffe mehr verhieß als der Griff zu einem Handwerkszeug. Menschen, die weder lesen noch schreiben können, sind dem einfachen Bild ausgeliefert, das ihnen vorgehalten wird. Was das Bild nicht leistet, leisten die Worte, die Prediger liefern. Was selbst die Worte nicht leisten, tut dann oft das Geld, das versprochen wird.
Doch damals wie heute radikalisiert sich niemand ohne einen Anlass. Allzu oft sitzt der Anlass für Gewalt tief. Viel zu oft wird mit der Religion die Gewalt erklärt, statt mit den Kriegen, die wir führen. Radikalisieren nicht Hunger und Leid in Afghanistan, dann ist es die alltägliche empfundene Perspektivlosigkeit in Europa, die dafür empfänglich macht. Die Perspektivlosigkeit einer Gruppe, die in den Augen vieler anderer ausschließlich religiös motiviert handelt. Ihre Perspektive wird nur selten eingenommen und noch seltener hinterfragt.
»Je suis ...«, wälzt sich eine mediale Welle der Solidarität durch die angeblich sozialen Netzwerke, wenn es in europäischen Ländern passiert. Passiert es in Frankreich, in Paris, dann sind viele dabei. Allein in der vergangenen Woche aber blieb ein »Je suis Pesharwar«, ein »Je suis Khost« aus, so wie es ausbleibt, wenn im Irak, in Afghanistan, an Dutzenden Tagen in Dutzenden Fällen gestorben wurde. Wo waren und wo sind die Solidarisierungswellen, wenn in den Ländern der europäischen Attentäter durch Militär getötet wird? Militär, das wir billigen und viel zu wenig hinterfragen.
Was ist mit der Doppelmoral, die wir uns leisten, wenn das Satireblatt »Titanic« kritisiert wird, weil die Satire den Papst trifft, »Charlie Hebdo« aber Symbol der Pressefreiheit sein soll? Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit dulden wir zu Recht nicht, dulden keine antisemitischen Karikaturen, haben aber zugleich bei einer anderen marginalisierten Gruppe den Anspruch, Karikaturen müssten ausgehalten werden.
»Der Jurist argumentiert mit dem Bibelzitat ›Wer sein Kind liebt, züchtige es.‹ Er muss mit Konsequenzen rechnen«, berichtete vor wenigen Tagen der NDR über einen deutschen Staatsanwalt. Eine Welle an Solidarisierung mit Kindern und gegen irregeleitete Christ*innen blieb aus.
Wir werden auch in Zukunft mit tödlichen Folgen konfrontiert sein, wenn wir denen, die Gewalt anwenden, weiterhin aus privilegierter Position heraus Gründe liefern. Menschen ohne Perspektive schrecken auch vor Gewalt nicht zurück. Wird ein ideologischer oder religiöser Überbau geliefert, dann greifen sie zur Waffe oder schreiten zur Tat. Ob in staatlich gebilligter Form als Soldat*innen oder in weltanschaulich extremistischer Form, ändert am Ergebnis wenig. Es variieren letztlich nur die Orte, an denen die Gewalt zu Tage tritt.
Was also tun? Braucht es die immer wiederkehrende Provokation mit einem religiösen Symbol? Keine dieser Überlegungen darf eine Gewalttat rechtfertigen. Doch statt kollektiv zu verurteilen, sollte es eher eine Pflicht sein, an der real existierenden Perspektivlosigkeit zu arbeiten, die immer weitere Teile der Gesellschaft anfällig macht für Ideologie, Extremismus und Verschwörungstheorien, in deren Namen tagtäglich an irgendeinem Ort der Welt getötet wird.
Daniel Lücking ist nd-Redakteur für Innenpolitik. Früher war er Bundeswehroffizier. Zwischen 2005 und 2008 wurde er mehrfach in Afghanistan im Medienbereich eingesetzt. Er war auch 2006 vor Ort, als die dänische Zeitung »Jyllands Posten« erstmals Mohammed-Karikaturen veröffentlichte.
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