Wundervoll widerborstig

Fulbert Steffenskys Essay über den »Mut zur Endlichkeit«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Es gibt die Kraft der ersten Sätze. Am besten ist es, wenn sie sprachlos machen. So etwa: »Wir leben in einer Gesellschaft, deren Weisheit schwach und deren Apparate stark sind.« Das ist der Bescheid, den manche Autoren an einen Schluss setzen. Fulbert Steffensky setzt ihn an den Beginn. In einem Gespräch mit Friedrich Schorlemmer hat der 1933 in Rehlingen (Saar) geborene Erziehungswissenschaftler und Religionspädagoge einmal gesagt: »Woran unsere Gesellschaft leidet, ist das Undeutliche.« Steffensky ist deutlich. Und er fragt: »Wie kann sich eine Gesellschaft selbst durchschauen?« Wir fragen, an seinen ersten Satz denkend, sofort zurück: Will sie das denn überhaupt, unsere Gesellschaft, kann sie es denn überhaupt, bei so viel vorausgesetztem Weisheitsmangel? »Mut zur Endlichkeit - Sterben in einer Gesellschaft der Sieger« heißt der Text von Steffensky, ein Denken zwischen Pamphlet und Essay, zwischen Predigt und meditativer Einkehr, ein fordernder, konsequent kritischer Text, herausgegeben vom Stuttgarter Radius-Verlag, in einer schönen hellen Broschur-Reihe (44 S., 12 Euro), etwas für die Tasche, für des Tages Stillstunden, und sei es für die Zeit, die wir »zwischendurch« nennen.   Für Steffensky ist die gegenwärtige westliche Welt vom Verlust eines entscheidenden Bewusstseins geprägt, des Bewusstseins »der Sterblichkeit und der Endlichkeit«. Ein »zielloser Machbarkeitswahn« durchziehe alle Bereiche des um sich selbst rotierenden Gesellschaftsgefüges. Der Autor zieht für die Verdeutlichung eines allgemeinen psychischen Stresses jene Menschen heran, die in Krankenhäusern oder Altersheimen arbeiten: Auf besonders intensive Weise konfrontiert mit Unglück, Niederlage, Vergehen und Tod, leben sie doch außerdienstlich in einer Ordnung, »die sich hauptsächlich in ihrem Können und Gelingen einleuchtet«, überall draußen »Gesundheit, Gepflegtheit und Schönheit und Funktionieren«. Zum Siegen verdammt! Das ist der Befund über Menschen in allgewaltiger Hatz, in Unfähigkeit zur Stille, zum Warten, zur Geduld. Tausend Anlässe, in Verzweiflung darob zum Zyniker zu werden. Der Autor zitiert aus Christa Wolfs »Kassandra«, jenen Verweis auf Sieger, die nicht aufhören können zu siegen, aber da ist im Roman trotz aller Erfahrung doch auch eine Hoffnung formuliert: »So mag es in der Zukunft Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.« Der Blick in unsere Gegenwart belässt den Satz in weiter Zukunft. Worin läge eine Chance zur Umkehr? Sie besteht im Glauben, »dass wir nicht die Produzenten und Garanten unserer selbst sind«. Also, so Steffensky: Gnade denken. Das heißt: »wissen, dass den Menschen nicht seine Tauglichkeit und Verwendbarkeit ausmacht«. Dies ist »das Grundwissen der Humanität: kein Mensch ist eines Zweckes wegen da«. Deshalb sieht Steffensky just darin, die Alten, die Kranken, die wie immer Behinderten sichtbar sein zu lassen, »das wundervoll Widerborstige und Anarchistische in einer Gesellschaft«. Er plädiert für das Unvollkommene, das Fragmentarische, das Vorläufige, »gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben.« Die halb gute Ehe, der halb gute Lehrer, der halb gute Therapeut. Das halb gute Leben. Das wärs schon. Bei aller Traurigkeit über das, was dem Leben dadurch fehlt. Aber ganz wird es nie. Gelingen ist »nur« immer heitere Bejahung des Begrenzten. Steffenskys Büchlein ist eine Ermunterung, als sei es möglich, die Schwelle zu einem neuen Zeit-Prinzip zu überschreiten. Ein Prinzip, welches das alte verarmte, das nur die schnell lineare Ausdehnung kennt, überwinden und ablösen kann - durch eine wesentlich erweiterte, beruhigende Bemessung. Denn eben diese gerade, einlinige Zeit, und als Fortschritt eingetrichtert, ein Überbleibsel aus der Epoche der Revolutionen - dieses Zeit-Prinzip ist ja dafür verantwortlich, dass wir den Taumel immer größerer Beschleunigung erleben. Weil alles in nur eine einzige Vorwärts- und Steigerungsrichtung getrieben wird. Die total gedopte Praxis. Erhöhten wir uns spirituell etwas, sähen wir wohl, wie das, was sich nach unserem Willen überstürzt, gemäßigt bewegt, befreit von unserem Machbarkeitswahn, mit dem wir die Welt nicht betrügen und täuschen können, sondern nur immer uns selber.   Aufrüttelnd ist der Text in einer wahrlichen Prüfungsfrage für jeden Charakter: »Wie mache ich mich langfristig in der Leidenschaft für das Recht der Schwachen?« Großartige Formulierung! Sich langfristig machen in einer Leidenschaft. Steffensky plädiert für jene Menschen, die Kranken, Sterbenden helfen, den Mut aufbringen, schreckliche Ratlosigkeit und schreckliche Sprachlosigkeit nicht zu leugnen, ohne dass aber die helfenden Hände verstummen, die trostmögliche Anwesenheit aufgegeben wird. »Das Alter ist eine kalte Jahreszeit«, hat der Autor in einem früheren Text geschrieben, dieser Text nun macht Vorschläge für einen Klimawandel unserer inneren Verfasstheit, der freilich gesellschaftlicher Änderungen bedarf: »Wir leiden daran, dass so wenige Gruppen leidenschaftliche Ideen vertreten. Wir leiden daran, dass niemand missioniert ... Der Geist stirbt, wo er sich nur verbirgt ... Kinder und Jugendliche können sich selber nur deutlich werden, wenn sie auf deutliche Gesichter stoßen.«   Ein Zeugnis aufgerichteten Bewusstseins ist dieses Buch, das in Durchwanderung der Schmerztäler, wo sich der dichte Schleier des technischen Scheins und der glitzernden Bedeutungsleere ausbreitet, doch geläutertes Erwarten erfährt. Und diese Erwartung erwächst aus den guten Verlockungen, sich zurückzunehmen aus der Wichtigkeit der Weltbestimmung, in Demut und Ehrfurcht selbstbewusst zu sein. Man überblickt die Passage nicht, in der man lebt, und ist doch ihr Eingeweihter. Nicht erst die Zukunft ist unentschieden, auch die Gegenwart ist es. Das macht unsicher. Schon tritt man leiser auf. Der Schritt der Leiseren, Langsameren, Gefassteren - wie gewinnt er die notwendig fo...

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