Die Botschaft ist klar: »Wir sind hier nicht erwünscht«

Gut ein Drittel Polens hat sich inzwischen zur »LGBT-freien-Zone« erklärt. Ein Atlas des Hasses zeigt, wie gespalten das Land ist.

  • Vanessa Fischer
  • Lesedauer: 7 Min.

Auf den ersten Blick wirkt Kraśnik wie eine idyllische Kleinstadt in Polen: mit Altstadt im Zentrum und Barockkirche aus dem 18. Jahrhundert. Ein paar Läden und Restaurants gibt es, weiter draußen reihen sich die Wohnquader aneinander – umgeben von den sanften Hügeln des Roztocze, den sie hier auch die polnische Toskana nennen.

Doch für Olga Sienkiewicz ist nichts an Kraśnik idyllisch, seit sich die 36.000-Einwohner*innen-Gemeinde zu einer sogenannten »LGBT-freien Zone« erklärte. Die junge Frau, die eigentlich anders heißt, ist Anfang zwanzig und lesbisch: »Eigentlich habe ich jetzt immer Angst«, sagt sie im Gespräch mit dem »nd«. Wenn sie händchenhaltend mit ihrer Freundin über die Straße gehe, dann seien die beiden ständig darauf gefasst, gleich beleidigt oder bespuckt zu werden. »Die Botschaft ist klar«, sagt Sienkiewicz. »Wir sind hier nicht erwünscht.«

Teller und Rand - der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Natürlich sei ihre Heimat, das fügt Sienkiewicz hinzu, schon immer etwas konservativ und auch ziemlich katholisch gewesen. Die Situation habe sich für sie und viele queere Menschen in Polen aber weiter verschärft, seitdem sich immer mehr Städte und Gemeinden dem Kampf gegen die »Gender-Ideologie« angeschlossen hätten. Die alltägliche Diskriminierung sei nun quasi von oben abgesegnet, sagt Sienkiewicz . Viele ihrer Freund*innen seien deshalb inzwischen nach Warschau, Poznań oder Wrocław gezogen, in den liberalen Westen, wie sie die Gegenden Polens nennt, die sich nicht zu »LGBT-freien Zonen« erklärt haben.

Dass »die Sache mit den Zonen« ausgerechnet in der Hauptstadt begann, sei eigentlich kein großes Wunder, meint Sienkiewicz. Im Februar 2019 hatte Warschaus Bürgermeister, Rafał Trzaskowski, verkündet, sich für LGBTIQ-Rechte einsetzen zu wollen und dieses Thema auch in die Sexualkundelehrpläne der Warschauer Schulen zu integrieren.

Auf die progressive Ankündigung folgte ein reaktionärer Backlash, der sich vor allem durch den Südosten Polens zog: Die rechtskonservative Wochenzeitung »Gazeta Polska« druckte Aufkleber mit der Aufschrift »Strefa wolna od LGBT« (deutsch: »LGBT-freie Zone«). Als erster Kreis sprach sich wenig später, im März 2019, Świdnik gegen den vermeintlichen Vormarsch der »LGBT-Ideologie« aus, gegen »Homopropaganda« und für die »Unschuld der Kinder«.

Das Beispiel machte Schule, immer mehr Städte und Gemeinden folgten. Inzwischen sind es über einhundert und damit gut ein Drittel des Landes. Polnische Aktivist*innen haben einen »Atlas des Hasses« erstellt, der die Queer-Feindlichkeit der Städte und Gemeinden auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht.

»LGBT-Ideologie« sei zerstörerischer als der Kommunismus

Auch Kraśnik ist auf dieser Karte tiefrot gefärbt: Am 30. Mai 2019 hatte der Stadtrat die Resolution zum »Stoppen der LGBT-Ideologie« verabschiedet. Deren Initiator, Jan Albiniak, gehört dem rechten Flügel der nationalkonservativen Regierungspartei PiS an, die sich den vermeintlichen Schutz der Familie schon seit längerem auf die Fahne geschrieben hat: Von Partei-Chef Jaroslaw Kaczyński, der mehrfach vor einem Einfluss von Minderheiten auf die polnische Gesellschaft warnte, bis hin zu Präsident Andrzej Duda, der im Wahlkampf noch vor wenigen Wochen erklärt hatte: »Man versucht uns einzureden, dass das Menschen sind. Aber es ist einfach nur eine Ideologie, die letztlich zerstörerischer als der Kommunismus ist«.

LGBTIQ+-Rechte mit Kommunismus, Pädophilie und der Einmischung des Westens in die Angelegenheit Polens zu verbinden, sei eigentlich keine neue Taktik, meint die feministische Wissenschaftlerin Agnieszka Graff. Im Gegenteil: Die PiS setze Homofeindlichkeit schon seit über einem Jahrzehnt als Propaganda-Instrument ein. Sie versuche so, die ländlich-traditionelle Bevölkerung zu umwerben, die soziale Polarisierung zu vertiefen, nationalistische Gefühle zu stärken und politische Spaltung in moralische zu verwandeln. »Alles Grundtechniken von Rechtspopulisten«, meint Graff.

Dabei sind es längt nicht nur queere Menschen, die von der Politik der PiS betroffen sind. »Es ist wichtig, die Thematik in einen allgemeinen rechtspopulistischen Umbau des Staates einzubetten«, sagt Markus Ulrich vom LSVD (Lesben und Schwulenverband in Deutschland) dem »nd«. Die »LGBT-freien Zonen« seien Teil eines anti-demokratischen Denkens, hinter dem eine rechtskatholische Ideologie stecke.

Tatsächlich ging der unter dem Namen »Stoppt Abtreibung« bekannte Gesetzesentwurf auf die ultrakonservative, christlich-fundamentalistische Juristenvereinigung Ordo Iuris zurück, die wohl dem Opus Dei nahesteht und mutmaßlich durch radikale Abtreibungs- und LGBTIQ+-Gegner*innen aus den USA mitfinanziert wird. Sie initiierte auch eine Kampagne gegen die Ratifizierung der Istanbulkonvention gegen Gewalt an Frauen und steckt hinter der »Kommunalen Charta der Familienrechte«, auf die sich viele der »LGBT-freien Zonen« in ihren Erklärungen beziehen.

»Wenn mit Religion argumentiert wird und sich eine bestimmte Idee von Sexualität durchsetzt, die letztlich nur auf Reproduktion aus ist, dann sind davon nicht nur queere Menschen betroffen, sondern auch viele cis-Hetero Personen«, so Ulrich. Zu sehen sei dies derzeit etwa in der radikalen Verschärfung des ohnehin sehr restriktiven Abtreibungsgesetzes.

Alles dreht sich um die Frage, wie liberal, wie offen Polen sein will

Das Schicksal queerer Menschen, reproduktive Rechte, sexuelle Selbstbestimmung und Frauenrechte allgemein – letztendlich dreht sich in Polen also alles um die Frage: Wie liberal, wie offen will man sein? Es ist eine Frage, die das ganze Land spaltet.

Dass es dabei auch immer wieder zu physischen Konfrontationen kommt, weiß Olga Sienkiewicz aus eigener Erfahrung. Bei der Gay-Pride in Lublin wurden sie und ihre Freund*innen im vergangenen Jahr von rechtsradikalen Hooligans angegriffen. »Zuerst haben sie uns nur beleidigt. Irgendwann flogen dann Steine, Böller und Flaschen. Die Polizei hat Tränengas eingesetzt. Es herrschte totales Chaos«, erinnert sie sich.

Die Bilder gingen später um die Welt. Als sich die Szenen im selben Jahr auch in Białystok wiederholten, zeigten sich Politiker*innen in vielen europäischen Ländern entsetzt, zogen Fördermittel zurück und beendeten Kooperationsprogramme. Auf dem Index des ILGA, dem weltweiten Dachverband der Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Trans- und Intersexorganisationen, ist Polen mit einem Score von nur 16 Prozentpunkten als Europas homofeindlichstes Land aufgelistet. Erst Anfang November reiste eine Beobachtungsdelegation des Europarats nach Polen, um mit lokalen Behörden, Politiker*innen, Aktivist*innen und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen zu sprechen. Die Reise war auf Bitte von Mitgliedern des polnischen Parlaments erfolgt.

Auch Kraśnik hat inzwischen 10 Millionen Euro an Zuschüssen aus der EU verloren. Im Februar 2020 stellte die französische Stadt Nogent-sur-Oise die Städtepartnerschaft ein. Wie viel solche Sanktionen tatsächlich bringen, ist dennoch fraglich. »Den meisten hier ist das egal«, meint Sienkiewicz. »Die Leute sind gegen LGBT, weil sie es für einen liberalen Lebensstil halten. Mit der EU wollen sie erst rechts nichts zu tun haben.«

Auch beim LSVD sieht man die Aufkündigung von Städtepartnerschaften eher kritisch. »Natürlich haben wir Forderungen an Politiker*innen gestellt«, erklärt Ulrich. So ruft der Dachverband in einer Online-Petition derzeit Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und die deutsch-polnische Parlamentariergruppe des Bundestags dazu auf, die Diskriminierung queerer Menschen in Polen deutlich zu verurteilen. »Wir wissen natürlich, dass das für deutsche Politiker*innen aufgrund der deutsch-polnischen Geschichte schwierig ist. Aber was ist die EU-Grundrechte-Charta denn wert, wenn nach einem Bruch keine Konsequenzen folgen?«, fragt Ulrich. Um queere Menschen in Polen nicht noch weiter zu isolieren, plädiere der LSVD jedoch dafür, mit den polnischen Städten und Gemeinden im Gespräch zu bleiben: »Positiv und konstruktiv«, so Ulrich.

Dass das manchmal auch funktionieren kann, zeigt die Geschichte von Paweł Kurek. Der junge Stadtrat aus Kraśnik hatte sich bei der Abstimmung im Mai 2019 seiner Stimme enthalten. Später bereute er diese Entscheidung – auch weil er einen Imageschaden für die Stadt befürchtete – und versuchte, die Resolution per Nachfolgebeschluss wieder aufzuheben. »Es sieht schlecht aus, wenn Partnerstädte ihre Zusammenarbeit abbrechen. Unternehmen wollen Investitionen nicht mehr in Kraśnik ansiedeln, weil wir als homophobe Stadt wahrgenommen werden. Und auch EU-Subventionen könnten wir verlieren«, sagte der IT-Lehrer in einem Interview mit der liberalen polnischen Tageszeitung »Gazeta Wyborcza«.

Ende September scheiterte Kurek mit seiner Resolution: Der Antrag wurde abgelehnt. Kraśnik bleibt somit vorerst »LGBT-frei«. Menschen wie Olga Sienkiewicz habe die Aktion aber dennoch Mut gemacht: »Und im Grunde hat selbst die Anti-LGBT-Kampagne eine Explosion an Solidarität hervorgebracht«. Am Ortseingang im westpolnischen Poznań hänge nun ein Schild: »LGBT+ – in Poznań seid ihr immer willkommen.« Warum sie nicht einfach dorthin ziehe? »Ich will mich nicht vertreiben lassen«, sagt die junge Frau. »Und ich will dabei sein, wenn wir eines Tages auch in Kraśnik die Regenbogen-Fahnen aus den Fenstern wehen lassen.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!