War es versuchter Mord?

Anwältin geht davon aus, dass der Halle-Angeklagte einen Somalier absichtlich angefahren hat.

  • Max Zeising
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Halle-Prozess wird im Dezember das Urteil gegen den Attentäter Stephan B. erwartet. Der Angeklagte könnte wegen mehr Fällen versuchten Mordes verurteilt werden, als er angeklagt ist. Hintergrund ist ein gerichtlicher Hinweis auf Antrag der Nebenklage, dass in Bezug auf Nebenkläger Adiraxmaan Aftax Ibrahim eine Verurteilung wegen versuchten Mordes anstelle der angeklagten fahrlässigen Körperverletzung in Betracht kommt.

Der Somalier war von Stephan B. auf dessen Flucht angefahren worden, die Bundesanwaltschaft hatte den Fall in ihrer Anklageschrift aber nur als fahrlässige Körperverletzung behandelt. Aus Sicht von Ibrahims Anwältin, der Berliner Juristin Ilil Friedman, geht diese Einstufung nicht weit genug: »Wir gehen davon aus, dass der Angeklagte absichtlich gehandelt hat. Und wenn er nicht absichtlich gehandelt hat, dann hat er die Tat in Kauf genommen. Es war ihm bewusst und er hat nicht versucht, die Kollision zu verhindern«, sagte Friedman dem »nd«.

Ibrahim selbst beschrieb den Vorfall in einem Interview mit »Belltower News«: »Es ging alles so schnell. Ich hörte noch einen Freund von mir rufen, dass ich aufpassen und zur Seite gehen soll. Ich schaute zur Seite und sah, wie ein Auto mit hoher Geschwindigkeit auf mich zuraste und mich bewusst ansteuerte.« Demnach sei der Attentäter als »Geisterfahrer« auf der falschen Fahrbahn unterwegs gewesen: »Ich schaffte es noch, zur Seite zu springen, konnte aber nicht vollständig ausweichen, sodass ich seitlich vom Auto erfasst wurde. Ich fiel auf mein rechtes Knie, erlitt dort eine schwere Prellung und hatte Verletzungen an der linken Hand.«

Zuvor hatte Stephan B. vergeblich versucht, in die Synagoge einzudringen, war aber an der Tür gescheitert. Anschließend hatte er zwei Menschen getötet. Zwei weiße Menschen: die 40-jährige Jana L., die zufällig an der Synagoge vorbeigekommen war, und den 20-jährigen Kevin S., der im »Kiez-Döner« auf der Ludwig-Wucherer-Straße seine Mittagspause verbracht hatte. Im Gegensatz zu den beiden Todesopfern entsprach der Schwarze Adiraxmaan Aftax Ibrahim dem rechtsextremen Feindbild des Attentäters. Angeklagt ist er nun wegen Mordes in zwei Fällen, versuchten Mordes in mehreren Fällen zum Nachteil von 68 Menschen sowie besonders schwerer räuberischer Erpressung, Volksverhetzung und eben fahrlässiger Körperverletzung.

Für Rechtsanwältin Friedman ist klar, dass das versuchter Mord war. »Der Angeklagte hat ihn gesehen. Er hat erkannt, dass es eine schwarze Person ist. Er ist nicht ausgewichen. Und er hat selbst vor Gericht gesagt, dass er für eine weiße Person ausgewichen wäre«, sagte sie dem »nd«. Warum die Bundesanwaltschaft den Fall nur als fahrlässige Körperverletzung behandelt, ist Friedman nicht klar: »Ich kann das nicht nachvollziehen, zumal dafür bislang und trotz unseres Antrags keine stichhaltige Begründung gegeben wurde.«

Um den Angeklagten auch in diesem Fall für versuchten Mord verurteilen zu können, obwohl der Fall als fahrlässige Körperverletzung angeklagt ist, muss ein Gericht die Verteidigung mit einem gerichtlichen Hinweis auf dieses Szenario vorbereiten. Diesen Hinweis gab Richterin Ursula Mertens während des Prozesstages am Mittwoch, was wiederum der Verteidigung ermöglichte, die Aussetzung des Prozesses oder zumindest eine dreiwöchige Unterbrechung zu beantragen. Laut Strafprozessordnung ist ein Strafprozess nämlich auszusetzen, wenn der Angeklagte bestreitet, auf neu hervorgetretene Umstände, die die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen ihn zulassen, vorbereitet zu sein.

Zu klären ist nun, ob tatsächlich auch neue Umstände vorliegen. Aus Sicht von Friedman ist dies nicht der Fall. Die Anwältin bezweifelt auch, dass der Prozess, der ohnehin bis zum 17. November regulär pausiert, unterbrochen wird. Auch Richterin Ursula Mertens sagte am Mittwoch, nach vorläufiger Bewertung des Antrags komme eine Aussetzung ihrer Meinung nach nicht in Betracht. Sie gab Nebenklage und Bundesanwaltschaft aber Gelegenheit, bis zum 16. November auf den Antrag zu reagieren. Sie wollte sich zudem mit anderen Richtern beraten.

Die Frage ist nun: War es tatsächlich versuchter Mord? Zumindest ließe sich argumentieren, dass Stephan B. beim Anfahren des Somaliers nicht nur als Rassist unterwegs gewesen sei, sondern auch als Raser. Der Vergleich mit Prozessen gegen Raser ist insofern interessant, als dass man dort den Versuch einer Erhöhung des Strafmaßes beobachten kann. Beispielhaft dafür war der Prozess gegen die sogenannten »Ku’damm-Raser«, die sich in Berlin im Februar 2016 ein illegales Autorennen lieferten, bei dem ein Unbeteiligter zu Tode kam. Beide Männer wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Es waren deutschlandweit die ersten Mordurteile in einem solchen Fall.

Auch wenn der Bundesgerichtshof das Urteil gegen einen der beiden Männer mehrfach aufhob und dieser Fall aktuell neu verhandelt wird, beobachtet auch Ilil Friedman eine Veränderung: »Derzeit versucht die Justiz mit aller Kraft und in viel strittigeren Fällen, ›Raser‹ wegen Mordes oder versuchten Mordes und nicht nur wegen Fahrlässigkeit zu verurteilen.« Fraglich sei deshalb, »warum sie es gerade im Fall meines Mandanten nicht getan hat, obwohl der Angeklagte noch dazu aus einem rassistischen Motiv heraus gehandelt hat«.

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