Wo Corona auf Brexit trifft

In Gibraltar nehmen die Einschränkungen wegen der Pandemie eine mögliche Zukunft vorweg

  • Maren Häußermann, Gibraltar
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Grenze zwischen Spanien und Gibraltar, sie ist an diesen Tagen langweilig. An der Stelle, wo vergangenes Jahr noch Autos, Mopeds und Elektroscooter aus allen Himmelsrichtungen im Stau standen, ist nun alles leer. Die Kontrollstellen unter Palmen passieren an diesen Tagen nur Pendler.

Die Pandemie hat das britische Überseegebiet Gibraltar hart getroffen. »Vorher kamen allein mit den Kreuzfahrtschiffen bis zu 12 000 Menschen pro Tag«, erzählt der 21-jährige Jaime im Touristenschalter am Grenzübergang. »Heute kamen vielleicht zehn.« Aber nicht nur Gibraltar lebt vom Tourismus, auch die angrenzende spanische Stadt La Línea de la Concepción hängt davon ab. Mehr als 15 000 Pendler überqueren täglich die Grenze. Gibraltar ist der wichtigste Arbeitgeber in der Region und ohne den Felsen sind die Spanier verloren, da sind sie sich sicher.

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Jorge Martín arbeitet in einer Tapasbar, gegenüber der ältesten Kirche in La Línea. Auf dem Vorplatz spielt sich das Leben ab, aber an diesen Tagen sind die Restaurants leer. Man öffnet für ein bis zwei Tische. »Die Regierung hat uns mit etwas Geld unterstützt, aber davon konnten wir nicht mal die Miete und den Strom bezahlen«, erzählt der 57-Jährige. La Línea de la Concepción ist eine der ärmsten Städte Spaniens. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent. Regelmäßig landet sie in den Nachrichten, weil die schlechte wirtschaftliche Lage die Menschen in die Kriminalität treibt, sie die geografische Lage ausnutzen und Drogen schmuggeln. Das war nicht immer so.

Die Menschen schwelgen in Erinnerungen, wie das ganze Umland sich auf dem Markt von La Línea traf, wie die Stars hier ihre Konzerte gaben und die Fiestas großartig waren. Aber dann schloss der spanische Diktator Francisco Franco die Grenze. Er schloss die Gibraltarer ein und die Spanier aus. Er zerstörte Beziehungen und Familien und beendete den Austausch, der für beide Seiten hilfreich war. Nervös blinkt man deshalb heutzutage auf die stockenden Brexit-Verhandlungen zwischen Madrid und London, das Gibraltar nach außen vertritt.

Die rund 36 000 Menschen in La Línea und über 30 000 Gibraltarer hoffen darauf, dass für sie selbst im Fall eines harten Brexits eine Lösung gefunden wird. Aktuell spricht man darüber, Gibraltar zum Teil der Schengenzone zu machen, um die freie Grenzbewegung zu retten. Aber alles ist unsicher und die Stimmung ist gedrückt. Die Pandemie hat Erinnerungen geweckt, die man vergessen wollte.

Von März bis Juni war Spanien in einem Lockdown. Seit Oktober sind die Grenzen der Region Andalusien erneut geschlossen. In ganz Spanien herrscht aktuell eine Ausgangssperre zwischen 23 und 6 Uhr, um zehn nach zehn abends müssen die Kellner die Gäste rausschmeißen. Das passt nicht zu einer Kultur, in der man sich erst um 21 Uhr zum Abendessen trifft und in der die Stadt das Wohnzimmer ersetzt. Wenigstens das Umfeld von Gibraltar, die Berge, Strände und Felder, laden zu Wochenendausflügen ein. »Im Sommer habe ich jede freie Sekunde in Spanien ausgenutzt«, sagt der Gibraltarer Jamie. Jeden Tag stellt sich für ihn aufs Neue die Frage, ob er das 6,5 Quadratmeter große Gibraltar verlassen kann.

Auf dem Hauptplatz Casemates sitzen Familien in der Sonne und genießen ihr Abendessen. Erst seit Ende Oktober ist es auch an diesem Platz vorgeschrieben, eine Maske zu tragen. Die Gibraltarer nutzten das Fernbleiben der Besucher im Frühjahr, um ihre Stadt zu renovieren. Die Regierung hat Steuern nachgelassen, damit möglichst viele Leute diese Option nutzen und so Arbeit schaffen. Als eines der wenigen Ferienziele für die Briten hat sich der Felsen im Süden der iberischen Halbinsel im Jahr 2020 zumindest als Heiratsdestination bewährt. Die Erfahrung hat die Gibraltarer gelehrt, dass sie auch mit einer geschlossenen Grenze irgendwie leben können. Die Spanier dagegen sehen in der Kombination aus Brexit und Pandemie düstere Zeiten auf sich zukommen.

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